1946 – Herbert Heulenberg

Bellissimo romanzo "veritiero" sul Feuerbach e Nanna. Sembra che Eulenberg conosca benissimo Roma ed abbia visto documenti in prima persona.
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Forse, grazie a queste informazioni, riuscirò a trovare il certificato di morte della vera Anna Risi. Credo di sapere dove cercare.
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Intanto, in attesa che io traduca qualche passo, chi conosce il tedesco potrà leggere questa bellissima storia d’amore, cliccando su:
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NANNA und FEUERBACH

Nel cercare informazioni sulle tracce lasciate da Herbert Eulenberg su Anna Risi nel suo romanzo, mi sono imbattuto in suo nipote Thomas Eulenberg, che vive a Dusseldorf, dove vi è anche una "Fondazione" a nome di Herbert Eulenberg e sua mglie Hedda.
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La Fondazione è: http://www.haus-freiheit.de
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Thomas Eulenberg, oltre a confermarmi che i personaggi negli scritti di HE hanno tutti, come pensavo, una verità storica, mi ha fatto anche un grande regalo: ha scannerizzato per me il libro "Nanna und Feuerbach" in Word, e mi ha permesso di inserirlo nel mio sito, avendone lui i diritti ed il copyright.
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Lo inserisco qui di seguito 
ed in seguito provvederò a tradurne i passi più interessanti.
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MAIL DI THOMAS EULENBERG
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Ich habe für Sie „Nanna Und Feuerbach“ gescannt und als Word Dokument erstellt. Es ist für Ihren persönlichen Gebrauch bestimmt.
Fast alle im Buch vorkommenden Namen finden Sie in der beigefügten Liste für Ihre eigene Suche.
Ich nehme an, daß „Nanna und Feuerbach“ in den Jahren 1939-1945 geschrieben wurde, als HE Berufsverbot durch die Nazies hatte.
Da er immer sehr gründliche recherchiert hat und seine Recherchen auf kleinen Zettelblöcken aufgeschrieben hat, wird er wohl solche Quellen während dieser Zeit aufgearbeitet haben. Möglich ist es, dass diese Zettelblöcke, von denen es eine große Anzahl gab, sich noch ungesichtet im Heinrich Heine-Archiv befinden.
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TRADUZIONE DELLA MAIL
Ho scannerizzato per Lei "Nanna und Feuerbach" , producendo un documento word. E’ per il suo uso personale. Troverà anche una lista con quasi tutti i nomi usati nel libro, utili per la sua ricerca.
Credo che "Nanna und Feuerbach" fu scritto tra il 1939 ed il 1945, quando ad Herbert Eulenberg fu dai nazisti proibito di scrivere.
Visto che HE faceva scrupolose ricerche e che prendeva appunti su dei blocchinote, sicuramente deve aver lavorato su fonti sicure. E’ possibile che questi blocchinote, di cui ve ne erano un grande numero, si trovino ancora oggi, non esaminate, nell’Archivio Heinrich Heine.
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Ringraziamo Thomas Eulenberg per queste utilissime informazioni e per il gradito regalo. 
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Vedrò di rivolgermi subito all’Archivio Heinrich Heine di Dusseldorf, sperando di trovare altrettanta collaborazione.
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LISTA DEI NOMI INSERITI IN
Nanna und Feuerbach

Personen
Böcklin

Von Kreidel
Sir Charles Mills
Allgeyer
Haslinger
Wilhelm Waiblinger
Winckelmann
Lenbach
Franz Liszt
Nena
Sterling
Hans von Maries
Brahms
Scheffel
Oswald Achenbach
Joseph Anton Koch
Peter Schenck
Stendhal
Papa Lambertini
Papa Braschi
Raphael Mengs
Overbeck
 Orte
 
Piazza Barberini
Trastevere
Via del Mascherone Nr. 63
Palazzo Farnese
Via de Chiavari
Porta San Lorenzo
Villa Adriana
Via Condotti
Cafe Greco
Via Tritone
Via San Isidoro—Haslingers Wohnung
Villa Malta
Porta Pia
Villa Malta …Wohnsitz König Ludwig
Villa Torlonia
Villa Albani
Villa d’Este
Trastevere
Campo Vaccino
Mal des Cestius (Pyramide)
Pagano (Capri)
Catania
Borgo
Nürnberg
Sankt Johanniskirchhof
Albrecht Dürer
Veit Stoß
Ospedale di San Spirito
Papst Sixtus
 

Kopie für Herrn Brunacci 
zum persönlichen Gebrauch.

Copia per il sig. Brunacci
per suo uso personale.

Copyright 2014 Thomas Eulenberg

 
 
HERBERT EULENBERG
Wahn und Wirklichkeit
 
 
 
VERLAG DER GREIF Walther Gericke • Wiesbaden
Lizenz Nr. 25 Walther Gericke
1.—5. Tausend (Dezember 1946)
Walther Gericke, Wiesbaden Einband: Hein Bartels —
Druck: Wiesbadener Kurier, Wiesbaden
 
 
Sind Sie auch auf heute abend zum König von Bayern befohlen worden?" Mit dieser Frage wandte sich ein junger, stutzerhaft ge­kleideter Mann auf dem römischen Korso an den vorübergehenden Feuerbach.
„Ja!” fuhr dieser aus seinen Gedanken auf: „Aber ich werde nicht hingehen."
„Und warum nicht, wenn ich mich danach erkundigen darf?"
„Sie dürfen, Herr von Kreidel: Aus dem einfachen Grunde, weil ich mein Modell zu­rückerwarte."
Damit verabschiedete Feuerbach sich lä­chelnd von seinem Landsmann, der ihm noch eine Weile verwundert nachschaute und da­bei dachte: „Wie kann man nur um eines Weibsbildes willen, und wenn es noch so schön wäre, eine solche ehrenvolle Aus­zeichnung ablehnen? Dazu gehört schon der ganze, allseits bekannte Stolz dieses selbst­bewußten Künstlers, der, als ihm einmal seine bei ihm sonst ungewohnte schlichte Kleidung vorgehalten wurde, geäußert hat:
 „Ich bin immer der Feuerbach, gleichviel welchen Rock ich anhabe!”
Der Herr von Kreidel konnte nur seinen Kopf schütteln über dieses selbstherrliche Verhalten eines anscheinend ärmlichen Ma­lers, der mit seiner kleinen, zierlichen Ge­stalt wieder unter der Straßenmenge ver­schwunden war.
„Weshalb mußte dieser Geck auch das Wort .befehlen’ gebrauchen?" grübelte Feuer­bach im Weitergehen vor sich hin. „Hätte er: ,Sind Sie auch eingeladen?’ gesagt, ich wäre vielleicht doch hingegangen, zumal der Kö­nig selber viel natürlicher und menschlicher ist als alle die Schranzen und Schmeichler, die ihn umwedeln.” Nun freilich verrannte er sich starrsinnig in den Entschluß, dem Künst­lerempfang fernzubleiben, den der Bayern­herrscher, der wieder einmal zu Besuch in Rom weilte, heute veranstalten wollte.
Sich von dem leichten Ärger zerstreuend, den er über seine ihm halb abgetrotzte Ab­lehnung empfand, tat er das Seinige, um alles auf die Ankunft seines Modells vorzu­bereiten. Er kaufte zunächst für ein paar Soldi einen riesigen Strauß von Teerosen an der Spanischen Treppe und erstand so­dann in der nahen Via Condotti alle mög­lichen Eßwaren für den meist reichlich vorhandenen Hunger seiner Freundin: Salami und Mortadella, Sardinen und Thunfisch und Gorgonzola und Strachino-Käse.
Als er so bepackt am Cafe Greco, der von deutschen Künstlern zu jener Zeit bevorzug­ten Stammkneipe, vorüberkam, suchten ihn zwei Stimmen, unter denen er die seines Schweizer Künstlerfreundes Böcklin gleich an seiner alemannischen Mundart erkannte, in ihrer Gesellschaft festzuhalten. Aber Feuerbach tat, als ob er ihre Lockungen nicht verstanden habe, und hastete zu seiner Wohnung in der Via San Isidoro weiter.
Der eine der beiden Kunstgefährten wollte ihm noch nachstürzen, um ihn an seinem kühn übergeworfenen Mantelumhang einzu­fangen. Aber Böcklin hielt ihn zurück, indem er verständnisinnig in seinem Basler Dütsch meinte, vermutlich sei der Freund eilig. Er entsinne sich, daß Feuerbach ihm anver­traut habe, heute werde seine Nanna wieder­kommen. Sie habe sich auf fünfzehn Tage in ein Kloster zurückgezogen, um dort Buße zu tun, nachdem sie sich von ihrem zänkischen, eifersüchtigen Schustergatten getrennt hätte. Der Stiefelflicker habe nicht länger dulden wollen, daß seine Frau den Malern stände, und habe sie der Kunst vorzuenthalten ver­sucht. Nun sei er von der gerechten Strafe dafür ereilt worden: Nanna werde wohl dauernd zu Feuerbach ziehen. Er habe ja ein Zimmer für sie neben seiner Werkstatt frei, seitdem sein Freund und Kupferstecher All­geyer nach Deutschland heimkehren mußte.
In der Tat war es so, wie der weitläufige findige Schweizer es vorausgesehen hatte, der über seinem Plaudern seelenruhig seine Dominosteine auf dem Marmortisch in dem verräucherten Cafehaus weiterschob und ab und zu ein Seufzerlein darob vernehmen ließ, daß ihm seine gestrenge Gattin niemals ge­statten wollte, ein weibliches Modell für seine nackten Frauengestalten zu nehmen.
 
Feuerbach war eben damit fertig geworden, sein Malzelt, wie Lenbach seine Arbeitsstätte zu benennen beliebte, so feierlich und wür­dig, wie es möglich war, für das Kommen seiner Nanna herzurichten, als es an seine Türe klopfte und sie erschien. Es war kurz vor Sonnenuntergang, und die rötlichen Strahlen beschienen die verschiedenen Bil­der, die er, die Freundin zu bewillkommnen, aufgestellt hatte.
Sie betrachtete sich einen Augenblick schweigend diesen Raum, sein eigenes kleines Feuerbach-Museum, wie er es wohl nannte, mit den beiden eben vollendeten Friesbildern, den balgenden Buben und dem Kinderständchen und dem Entwurf zur Iphi­genie, zu dem sie bereits gesessen hatte. Und sie dachte dabei: ,,Hier wirst du also für die nächste Zeit wohnen und zu Hause sein." Und mit einem leichten schönen Schauder reichte sie ihm jetzt ihre Hand und sagte nur dies, seinen Vornamen, der ihm erst recht lieb geworden war, seitdem er ihn auf italienisch hörte: ,,Anselmo!”
Er bat sie, Platz zu nehmen und sich bei ihm heimisch zu fühlen. Bat sie mit jener hinreißenden Liebenswürdigkeit, die er ha­ben konnte und die bei ihm so überraschend wie ein Sonnenstrahl durch finsteres Gewölk wirkte, weil sie mit seinem sonst so ernsten, verschlossenen Wesen in einem leuchtenden Gegensatz stand.
Aber Nanna blieb noch eine Weile stehen. Ihr Blick haftete wieder an der Tafel mit den spielenden Knaben, die sich unbekümmert in kindlicher nackter Unschuld wie weiland ihre Urahnen Romulus und Remus herum­tummelten. Sie mochte dabei kurz ihres eige­nen kleinen Sohnes gedenken Aber der war ja in sicherer Obhut bei ihren Verwandten in den Sabinerbergen und dort besser auf­gehoben als in dem lauten und von allerlei Fuhrwerk durchzogenen Rom.
Und so ließ Nanna sich nun auf dem Sessel nieder, den er schon für sie bereitet hatte. Sie tat es mit jener Würde, die er stets an ihr bewunderte, nicht anders, als ob eine Königin sich zu ihm aus Verehrung für seine Kunst herabgelassen hätte.
Das war es ja, was ihn von der ersten Be­gegnung an so eindringlich, so unwidersteh­lich zu ihr hingezogen hatte: dieses Hoheits­volle der römischen Frau, damals, da er sie auf der Via Tritone — noch jetzt machte er gern eine Verneigung an jener Stelle — zu­erst gesehen hatte, wie sie, den Säugling auf ihrem Arm, vor einem Fenster stand, dessen Auslage geweihte Dinge wie Rosenkränze, Kreuze und fromme Denkmünzen zeigte. Wie vom Blitz gerührt hatte er den Arm des neben ihm herschreitenden Allgeyer ergriffen und ihm zugeflüstert: „Dies göttliche Weib dort muß mein Modell, meine Muse werden!“’
Und dann war es rascher dazu gekommen, als er im ersten Rausch der Begeisterung für ihre Schönheit geahnt hatte. Sie war, ge­schmeichelt von seinen stürmischen Anträ­gen, ihm für ein Bild zu sitzen, alsbald von ihrem Gatten, den sie infolge seines niedri­gen Wesens längst leid hatte, zu ihm übergesiedelt und nach einer kurzen Prüfungszeit, die sie sich auferlegt, fest entschlossen, bei ihm zu bleiben.
Nun konnte er sich unaufhörlich an dem edlen Antlitz dieser Frau weiden, das von einer Last von schwarzen Haaren dunkel umrahmt wurde.
Sie stammte aus Trastevere, jenem jen­seits des Tiber gelegenen Stadtviertel, des­sen Bewohner den Anspruch darauf erhoben, das altrömische Blut am reinsten bewahrt zu haben. Und Nannas strenge, erhabene, durch einen schwermutvollen Ausdruck ge­adelte Züge bezeugten diese Behauptung ihrer nächsten Landsleute.
Stundenlang mochte ihr Malersmann sie jetzt anschauen und den ergreifenden Zau­ber ihres Wesens auffangen, das immerzu um etwas Verlorenes zu trauern schien.
Für sie waren es seine Augen, die sie zu­nächst und dann unablässig zu ihm hinge­zogen hatten: jene in Italien so seltenen hellblauen, oft aufleuchtenden Augen, die wie die ihren leicht einen feuchten Schim­mer annahmen und denen man anmerkte, daß sie schon oft über das Weh der Welt ge­weint hatten.
Während die beiden Liebenden allein oben in Feuerbachs Arbeitsstätte die Wonnen des Wiedersehens auskosteten, hatte der Herr von Kreidel sich in eine noch etwas höher gelegene Wohnung nicht allzu weit von der Via San Isidoro begeben. Dort hauste in einem dürftigen Dachstübchen zusammen mit einem älteren Römer, der sich anmaßend ,pittore’ nannte, aber nur Anspruch auf den Rang eines Anstreichers hatte, ein junger Deutscher namens Haslinger.
Wovon dieser Mensch eigentlich lebte, hätte er selber kaum recht sagen können. Er war einer von jenen Fremden, die, einmal in Rom angelangt, nicht mehr von dieser Stadt loskommen können. Er betätigte sich in der Hauptsache schriftstellerisch, und ab und zu gelang es ihm, den einen oder an­deren Beitrag aus seiner Feder in einer hei­matlichen Zeitung unterzubringen, so daß er sich von dem Erlös für diese seine Arbeiten wieder für eine Frist ernähren konnte.
Dem Herrn von Kreidel war er als ein Dichter empfohlen und von ihm nun zu einem Auftrag herangezogen worden, der darin be­stand, ein paar Strophen zu Ehren des Königs von Bayern zu verfassen. Mit ihnen wollte der eitle Streber sich selber schmücken, in­dem er sie heute abend als seine eigene Dichtung vor dem Fürsten in dessen Wohn­sitz in der Villa Malta vorzutragen gedachte.
Kreidel hatte bisher noch verschiedenes an der von ihm bestellten Huldigung auszu­setzen gehabt, die ihm noch nicht unter­würfig und geschmeidig genug erschien. Auch jetzt war er mit der letzten Fassung, die Haslinger ihr gegeben hatte, noch nicht ganz zufrieden. Immerhin begann er, sie, schon um sich selber darauf erneut vorzubereiten, laut vor sich hinzusprechen:
 
Erhabner Herrscher, den die Sehnsucht wieder,
Die Liebe zu der Kunst nach Rom gezogen
Als treusten Freund der Bildsr und der Lieder,
Den deutschen Künstlern liebevoll gewogen.
Sie bieten ihrem Fürsten ein Willkommen
In dieser Ewigen Stadt, daß ihm die Stunden,
Die er zur Rast im Schönen sich genommen,
Sich wie ein Kranz um seine Schläfen runden.
Daß diese Stadt, drin Rafael verweilte,
Ihm Kraft und Mut zu neuen Taten gebe,
Daß, eh’ der Tag des Abschieds ihn ereilte,
Die Muße bei den Musen ihn belebe!
Das ist der Wunsch, den wir heut alle hegen,
Den wir ihm bringen als die beste Gabe:
Roms Größe spende diesem König Segen,
Daß er daheim sich lang an ihm erlabe!
 
„Mehr an Ehrfurcht für den Monarchen haben Sie sich wohl nicht abringen können?" meinte Kreidel mit einem teils geringschätzi­gen, teils vorwurfsvollen Ton, den er sich im Umgang mit Künstlern angewöhnt hatte.
Dann aber verzichtete er auf eine weitere Bemängelung, indem ihm seine ihm bevor­stehende Aufgabe einfiel: ,,Schon gut, meinethalben! Ich muß das Zeug ja auch noch so halb und halb auswendig lernen!"
Er reichte dem etwas verstimmten Has­linger ein Blatt und dann einen Briefumschlag. „Hier! Bitte bescheinigen Sie mir den Emp­fang Ihrer Vergütung." Und, dann fügte er, um dem Dichter wenigstens noch ein Trink­geld draufzuzahlen, hinzu: „Die Muße bei den Musen klingt nicht schlecht in Ihren Versen. Nur sehr schwer auszusprechen!"
Mit dieser letzten Mißbilligung, die seine vorangegangene Huldigung fast wieder zu­rücknahm, entfernte Kreidel sich schleunigst aus der kümmerlichen Kammer, die einen ihm unleidlichen Armeleutegeruch aus­strömte.
 
Haslinger wußte gleich, was er mit dem Er­lös für seine Reimereien anzufangen hatte. Er begab sich mit dem Geld zu dem Schuh­macher Risi, Nannas gewesenem Gatten, der jenseits des Tibers sein Handwerk trieb.
Im Vorbeigehen warf er noch einen zärt­lichen Blick auf den kleinen reizenden Rund­tempel am Fluß, den man für ein Heiligtum der Vesta hielt und der ihn wegen seiner schönen Maße in Gedanken stets an Nanna erinnerte.
Ingrimmig dachte er, während er die Mün­zen in seiner Tasche fühlte: ,,Da wird man für solch ein bestelltes klägliches Machwerk bezahlt, während einem die wahren dichte­rischen Leistungen unbeachtet und unge­schätzt im Schrank vergilben."
Bei dem Flickschuster, in dessen niedrige Bude er jetzt eintrat, erfreute sich der arme Dichter auch keiner sehr hohen Würdigung. ,,Der Mann mit den durchgelaufensten Soh­len", hatte ihn Risi oft höchst verächtlich vor seiner Frau bezeichnet, als diese noch bei ihm weilte. Nichtsdestoweniger hatte sich Haslinger immer wieder zur Ausbesse­rung seines Schuhwerks an diesen Ort be­geben, weil er ihm die beste Gelegenheit bot, Nanna zu bewundern.  
Stundenlang hatte er geduldig dort ge­sessen, bis unter vielem Bohren, Glätten und Hämmern seine Stiefel wieder einigermaßen in Ordnung gebracht worden waren. ,,Ic.h kann warten”, hatte er stets aufs neue be­teuert und dann mit seinen Blicken gespannt Nannas Gang und Haltung betrachtet.
Wie die Göttin Athene, die sich zu einem Schweinehirten verirrt hat, kam sie ihm vor, diese hoheitsvolle Frau, die mit ihren lässi­gen und dabei doch vornehmen Bewegungen in dieser trübseligen, unsauberen Hütte ihres Amtes waltete. Er wurde nicht müde, sie in ihren kleinsten Handreichungen zu verfol­gen und, ohne daß sie es merken sollte, mit seinen Augen zu liebkosen.
Wie enttäuscht war Haslinger nun, als die von ihm im stillen angebetete Frau plötzlich aus dieser ihrer bisherigen Umgebung ver­schwunden war!
Er wagte in seiner Schüchternheit zu­nächst gar nicht, sich nach ihrem Verbleib zu erkundigen. Und als er sich endlich mit der Sprache herausgetraute, bekam er solch häßliche Antworten von diesem schmutzigen  Handwerker zu hören, daß er sich schämte  und ärgerte, überhaupt nach jenem hohen Weibe gefragt zu haben, das dieser Grobian hinabzuziehen suchte.
Indessen sollte ihm, der diesem verlorenen Götterbilde nachtrauerte, schon am nächsten Morgen ein Wiedersehen mit ihr vergönnt sein.
Unter den herrlichen Wanderungen, die man durch Rom bis an die Tore der Stadt unternehmen kann, bevorzugte der Dichter am meisten jene zu dem Mal des Cestius, in dessen dreieckigem Schatten der Friedhof der Fremden, der Ketzer, wie man sie hier noch nannte, gelegen war. Bis vor einiger Zeit war er ziemlich verwahrlost, nicht um­friedet, und ungeschützt geblieben. Ja, ge­legentlich hatten rohe Menschen wohl aus Mißachtung für die andersgläubigen Seelen, die dort ruhten, diesen Ort gar nächtlicher­weile verunreinigt. Aber nun hatte der preu­ßische Gesandte Wilhelm von Humboldt, dem selber in Rom zwei Kinder gestorben nnd an diesem Ort bestattet worden waren, dafür Sorge getragen, daß der Gottesacker eine würdige Umzäunung bekommen hatte und bewacht wurde.
Es war ein Sonntagmorgen, als Haslinger dieser frommen Stätte jetzt seinen Besuch abstattete. Er pflegte dies um diese Stunde regelmäßig zu tun, weil er dann als Feier­gabe seinem dort schlummernden Freund, dem toten Dichter Wilhelm Waiblinger, jedes­mal ein Sonett ans Grab brachte. Es war dies seine Huldigung für seinen früh aus diesem Dasein geschiedenen schwäbischen Lands­mann, mit dem ihn ein kurzer, aber inniger Herzensbund vereinigt hatte. Noch zu dessen Lebzeiten hatte er dem Gefährten manches solcher Klinggedichte vorgelesen, der dann mit einem freundschaftlichen Lächeln fest­stellte, daß sein Berufsbruder nun auch von dem Sonettenfieber, der dichterischen Krank­heit, die so manches schwärmerische Gemüt in dieser Stadt ergreift, befallen sei.
Als Haslinger sich diesmal dem kleinen Gräberfeld näherte, bemerkte er vor dem Eingangstor einen recht vornehmen zweispännigen Mietwagen, der nach damaliger römischer Sitte am heutigen Festtag zu einer Ausfahrt vor die Tore mit Blumen ge­schmückt war. Und als der wackere Schwabe nun der Gruft zuschritt, in der sein von ihm verehrter Freund in ewigem Schlummer lag, da gewahrte er auch das Paar, das offenbar soeben diesem stattlichen Gefährt entstiegen war, und erkannte nun — wobei ihm das Herz bis zum Halse schlug — in der weiblichen Gestalt, die zusammen mit einem Herrn vor dem Totenhügel Waiblingers stand, sein von ferne heiß verehrtes Götterbild wieder.
Nanna war etwas widerspenstig mit Feuer­bach an diese Stelle gegangen, so gerne sie seine Einladung zu einem Ausflug vor die Porta Pia und in die Campagna hinaus ange­nommen hatte. Unterwegs bekam er, der sich so gern jeder Schwermut hingab, plötzlich die Laune, den Toten eine Ehre zu erweisen.
Er hatte vor einigen Tagen von dem selt­samen Schicksal dieses deutschen Dichters vernommen, der als Jüngling von einer un­widerstehlichen Sehnsucht nach Italien er­faßt und hierher gereist und gestorben war. Viele häßliche Geschichten über sein wildes, ungezügeltes Leben in Rom waren stark über­trieben in seine elterliche Heimat nach Reut­lingen gedrungen und hatten dort ebenso böses Blut gemacht, wie es die üblen Nach­reden über Feuerbachs Treiben am Tiber in Ansbach, dem Wohnort seiner Mutter Hen­riette, getan hatten.
Die Ähnlichkeit dieses ihres Geschicks, das sie beide nach Italien gezogen und dann ein Opfer krähwinkeliger Klatschsucht hatte werden lassen, war ein Anlaß für den Maler gewesen, einmal unter denen, die hier neben dem Grabmal des alten Römers Cestius schlummerten, die Ruhestätte seines ent­schlafenen Künstlerbruders aufzusuchen. Und Nanna war ihm nicht eben gern, aber doch nachgebend bis an diese Gruft gefolgt.
,,Schau!" sprach er jetzt zu ihr und schob leise den Efeu von dem Grabstein, einer zer­brochenen antiken Säule, wobei er daran dachte, wie manchesmal er schon so ihr dunkles Haar an ihren Schläfen hochgestreift hatte, um die wundervolle Einbuchtung ihrer Stirn zu betrachten. „Schau!" wiederholte er, und das Gefühl der Vergänglichkeit alles Irdischen überrieselte ihn: „Wie früh er gestorben ist!"
Er wies auf die beiden Jahreszahlen 1804 bis 1830 auf dem Marmor, die das ganze kurze Erdenwallen dieses Dichters umschlos­sen. „So jung darf man nicht von der Bühne des Lebens verschwinden!" fügte er noch hinzu: „Man hat ja dann seine Rolle kaum ausspielen können."
Doch Nanna verspürte wenig Lust, sich hier länger aufzuhalten. Für sie war der Tote dort, dem ihr Geliebter seine Aufwartung machte, nur ein „forestiere”, ein Fremder und noch dazu ein Lutherianer wie Feuer­bach selber. Dies hatte sie sogar zunächst davon abhalten wollen, sich ihm hinzugeben, diesem Irrgläubigen, bis sie sein frommes Bild der Madonna gesehen und sich gesagt hatte, daß wohl auch in ihm eine katholische Seele ruhen müßte.
Sie fröstelte ein wenig in dem kalten Dunkel der hohen Zypressen, die hier wie ernste Wärter über den Grüften der Toten standen.
Da sah sie, wie sie sich von diesem ihr im Grunde gleichgültigen Platz abwandte, den nicht weit von ihr stehenden Haslinger, der ehrfurchtsvoll in dieser kleinen Entfernung von den beiden verweilte. Sie erkannte ihn und grüßte ihn mit jenem kurzen herablas­senden Nicken der römischen Damen und jenem lässigen und doch offenen und durch­dringenden Blick, mit dem sie einen anzu­schauen pflegen.
Die leichte Begrüßung, die sie da dem an­deren Manne spendete, verstimmte jedoch schon den launenhaften, reizbaren Feuer­bach. Ärgerlich ergriff er ihren Arm, um sie rasch von diesem Ort, der ihm durch die Gegenwart eines Dritten entweiht zu sein schien, wegzuziehen.
„Wer war denn dieser zudringliche Mensch, der sich da in unserer Nähe breitmachte?" fragte er sie wie so oft leicht verbittert, als sie nebeneinander in dem aufgeputzten Fuhr­werk saßen, das nun rasselnd über das harte römische Pflaster weiterrollte.
Nanna mußte lächeln über seine Eifersucht und über seine übertriebene Ablehnung des bescheidenen Fremdlings, der sich ganz scheu und schüchtern ehrfurchtsvoll beiseite ge­drückt hatte.
,,Ein Landsmann von dir, ein blutarmer Künstler war es!” gab sie zur Antwort. ,,Er kam zuweilen zu Risi, um sich seine recht erbärmlichen Schuhe flicken zu lassen. Er behauptete, in Rom hielten die Sohlen nur vierzehn Tage lang und las uns einmal etwas aus den Abenteuern vor, die er schon mit ihnen erlebt hätte."
„Genug!” Feuerbach liebte es nicht, wenn sie sich allzulang in Erinnerungen an ihr Vor­leben mit der Schusterseele verlor und schnitt jedes solche Ausschweifen in ihre Ver­gangenheit gerne mit einem kurzen Wort ab.
Das verdroß Nanna nun wiederum ein wenig. Und so verharrten die Beiden schwei­gend die lange Strecke durch die Stadt von der Pyramide des Cestius bis zum Tor, das sie erreichen wollten.
Sie hatte ihn gebeten, diesen weiten Weg zu wählen, um sich nunmehr, wo sie ent­schlossen war, dauernd bei ihm zu bleiben, möglichst vielen Leuten mit ihrem Maler zu zeigen.
Erst als der Wagen hinter der Villa Torlonia an die alte, von Michelangelo ent­worfene, mächtige steinerne Pforte gelangte und sich der sehnsüchtige Blick auf die blauen Sabinerberge und den von Feuerbach so geliebten steilen Bergrücken des Sofacte öffnete, den weiland Horaz besungen hatte, erst da heiterte sich die Stimmung des son­derbaren Paares wieder auf.
Feuerbach hatte sich inzwischen kleinlich gescholten, daß Nannas flüchtiges Neigen vor einem Bekannten so schwer und unwillig von ihm aufgefaßt worden war. Und sie hatte sich heimlich gesagt, daß seine heftige Eifer­sucht, mit der er sie jetzt beobachtete, ja doch auch schmeichelhaft für sie war.
Als sie jetzt beide auf dem Rasen des Gartens der Villa Albani sich niedergelassen hatten, um dort über einer ausgebreiteten Decke einen Imbiß im Grünen einzunehmen, besserte sich Feuerbachs Laune unter der Einwirkung des Orvieto-Weins, den sie ab­wechselnd aus einem mitgebrachten Becher schlürften, alsbald zusehends.
Sie hatten sich auf seinen Wunsch in der Nähe des riesigen steinernen Brustbildes von Winckelmann gelagert, das kürzlich hier dem kunstsinnigen deutschen Altertumsfor­scher vom Bayernkönig Ludwig errichtet worden war.
Feuerbach mochte diesen Platz im Schat­ten der immergrünen Eichen, die hier wuch­sen, besonders gern, weil ihn die Ehrung, die man dem großen Winckelmann erwiesen hatte, an seinen von ihm bewunderten eige­nen Vater erinnerte, der in den Fußtapfen dieses Kenners der Alten gewandelt war, bis er, ein Unvollendeter und Gemütsleidender, früh seine Tage beschlossen hatte.
Mit seinem linken Arm umschlang der Maler jetzt seine Geliebte. Und dann hielt er den silbernen Becher, den er aus seinem Knappsack hervorgezogen, hoch empor und brachte ihn mit Wein gefüllt dem Andenken seines Vaters und seines vom Unglück um­witterten heldischen Hauses dar, das in ihm einen so schicksalsschweren Ausklang fin­den sollte.
Es war einer jener seltenen Augenblicke in seinem Leben, wo er dem schweren irdi­schen Los, das ihm beschieden war, entrückt wurde und im vollen Gefühl seiner Begabung der ganzen ihm widerstrebenden gegenwär­tigen Welt seinen Trotz und Stolz entgegen­stellte.
Ein Widerschein dieser hohen Empfindung ging auch auf die üppig gekleidete,mit adliger Schönheit von der Schöpfung bedachte Frau an seiner Seite über, also daß sie, im Strahl der Morgensonne rot erglühend, den Rest des Trinkkelches, den er ihr darbot, leerte, als wäre es ein Zaubertrank, der sie und ihn zu einer ewigen Liebe verbinden sollte,
Das großartige Paar hatte kaum den Fried­hof verlassen, als Haslinger an das Grab sei­nes Freundes getreten war.
Vorher freilich hatte er der prächtig in ihrem veilchenblauen Seidenkleid einher­schreitenden Nanna so lange nachgestarrt, bis sie hinter dem ernsten Denkstein des Cestius verschwunden war. Er hatte sich wieder an ihrer schwellenden Gestalt und ihrem schwebenden, wenn auch schweren Gang erfreut, an dem so häufig in der Werk­statt des Schusters seine Augen liebevoll ge­hangen hatten. Dann war er neiderfüllt gegen den Mann, der sie nun fortführen durfte, für eine Weile auf einen steinernen Block ge­sunken, der über einem der Gräber ruhte.
Haslinger kannte den Maler Feuerbach. Er hatte manchmal von ihm und seiner Begabung wie von seinen Schrullen sprechen hören und’ wußte auch, daß Nanna ihm schon zu einem Bilde gesessen hatte. Das war ja nicht das erste Mal, daß sie sich hierzu her­gegeben hatte. Auch andere Künstler hatten ihre edlen Züge und ihre hohe Gestalt schon in Gemälden aufgefangen. Doch nun schien sie ganz diesem Einzigen allein verfallen und der übrigen Männerwelt entzogen zu sein.
Der einsame Haslinger trat jetzt vor die Dichtergruft, vor der soeben noch Nanna und ihr bevorzugter und erklärter Liebhaber geweilt hatten.
Sie mochten wohl das winzige Lorbeer­bäumchen nicht gesehen haben, das Has­linger hier eingepflanzt hatte. Es wollte aber auch gar nicht recht wachsen. Ebenso wenig wie der Ruhm des so früh verblichenen Waiblinger, von dem seine ihn schätzenden Kunstgenossen sich so vieles versprochen hatten und der, wenn ihn nicht einzelne Ver­ehrer gelegentlich wieder wachgerufen hätten, schon verklungen wäre.
Ja, der Lorbeer schien hier über den Ge­beinen dieses Dichters keine rechten Wur­zeln schlagen zu können, so verkümmert kam er dem gute n Haslinger heute wieder vor, obwohl er ihn nach jedem Besuch, den er dem Grabe machte, reichlich mit Wasser aus dem nahen Ziehbrunnen genetzt hatte. Traurig streifte er ein paar welk gewordene Blätter von dem Bäumchen ab, die nun auf den Totenhügel niederrieselten. „Wie ge­frorene Tränen", mußte Haslinger dabei denken.
Dann las er dem verstorbenen Landsmann und seiner Asche, wie er es jedesmal hier so zu halten pflegte, das Sonett vor, das er ihm für diesen Sonntag zugedacht hatte. —
 
Mein bester Freund, warum bist du gegangen
Und hast dich früh von unserm Stern entfernt?
Du hattest kaum zu lieben noch gelernt
Und in der Kunst erst spielend angefangen,
 
Da riß es dich schon jählings zu den Schatten
An diesen düstern, schmerzerfüllten Ort
Von den Gefährten und den Frauen fort,
Die dich und deinen Geist bewundert hatten.
 
Du kehrst nicht wieder aus dem Reich des Schweigens,
Du lebst der Welt nur noch in deinen Werken.
An ihnen rnuß sich die Erinnrung stärken
Und an der Schönheit jenes bunten Reigens
 
Der Verse, die voll Glut und Glanz noch heute
Dein Dichtertum wie Blumen um sich streute.
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Als das letzte Wort auf dem stillen Friedhof verhallt und von den Zypressen wie ein Hauch eingesogen war, heftete Haslinger noch einen Kuß auf den kalten Grabstein, unter dem sein erloschener Gefährte lag, und verließ hastig die düstere Stätte der Dahingeschiedenen.
 
Während Haslinger am nächsten Sonntag erneut wieder auf dem Friedhof erschien und nicht müde wurde, seine gleichförmigen Klagelieder über der Gruft des Toten abzu­singen, scheute Feuerbach von nun an die­sen Platz.
Er betrat ihn nicht mehr, nachdem ihm zu­getragen worden war, die Verwandtschaft seines Lebenslaufes mit dem dieses Dichters sei so weit gegangen, daß Waiblinger gar eine gleichnamige Geliebte in Rom, auch Nanna geheißen, gehabt habe. Einer weite­ren Verbindung ihres Schicksals durch einen gleichen frühen Tod in dieser Stadt mochte sich der leicht abergläubische Maler nicht aussetzen und mied darum den Aschenhügel fortan.
Es war kein leichter Dienst, den Nanna antrat, als sie sich und ihre Jugendblüte ganz der Kunst hingab. Und das, was sie damit übernahm, glich in etwa der Verpflich­tung, die sich Haslinger dadurch aufgeladen hatte, daß er dem toten Dichterfreund seine ständige Huldigung darbrachte.
Schon die stete Ruhe in ihrer Haltung, die Feuerbach von ihr forderte, wenn sie ihm saß, war eine große Anstrengung für sie. Zum Glück wurde diese ihr erleichtert durch ihr eigenes Wesen, das zur Stille und zur Träumerei neigte, so daß sie als Kind schon oftmals wohl halbe Stunden lang und länger in sich versunken dasitzen konnte.
Schwerer waren seine Empfindlichkeit und Reizbarkeit zu ertragen, seine wechselnden Stimmungen, unter denen er schon als Knabe gelitten hatte und die nun des öfteren sich zu einem ihn peinigenden Gefühl der Unge­nügsamkeit und Unzufriedenheit mit sich und seinem Können steigerten.
Schon einmal hatte er ein Bild von ihr, das sie stehend als Iphigenie darstellte, zu ihrem Kummer vernichtet. Sie hatte schon vermeint, er habe sich ganz in diese Wieder­gabe der Griechin, die er malen wollte, hin­eingelebt. Mehrmals hatte er dabei die deut­schen Verse vor sich hingesprochen:
 
Heraus in Eure Schatten, rege Wipfel
Des alten heil’gen, dichtbelaubten Haines,
Wie in der Göttin stilles Heiligtum,
Tret’ ich noch jetzt mit schaudeindem Gefühl,
Als wenn ich sie zum erstenmal beträte,
Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.
 
Da hatte er plötzlich wie in einem Tob­suchtsanfall mit seiner Faust das so fried­lich begonnene Gemälde zerschlagen und ihr unvermutet erklärt, daß er als Maler seine Iphigenie nur in sitzender Stellung wiedergeben könnte, wie sie am fremden, ungastlichen Strand der Barbaren verweilte, den Blick auf das Meer geheftet, das sie von der geliebten Heimat trennte, das Land der Griechen mit der Seele suchend.
Er hatte dann gleich im heißesten Feuer­eifer begonnen, diese seine neue Auffassung auf der großaufgespannten Leinwand festzuhalten.
Stundenlang mußte Nanna nun in dieser Haltung verharren zu seiner ersten Darstel­lung jener von der Machtgier und Willkür eines herrischen Vaters hingeopferten Grie­chin, der Tochter aus dem unheilvollen Ge­schlecht des Tantalus.
Ihr, seinem wunderbaren Modell, das nicht wie eine Gliederpuppe, sondern wie das Leben selber vor ihm saß, ihr lauschte der Künstler den still ergebenen, entsagenden Ausdruck ab, mit dem sie, halb in ihr Geschick gefaßt, halb in ihren Träumen nach der Ferne ausschwärmend, aufs Meer hinausblickt. ihre rechte Hand greift sinnend nach der Perlenkette, die um ihren Hals ge­schlungen ist. Und die Linke hält einen Lor­beerzweig, Erinnerung an das Reich er hellenischen Schönheit, das sie hat verlassen müssen.
Wie manchesmal mußte Nanna nach sei­nen Angaben den Faltenwurf ihres weißen Gewandes, in das er sie gehüllt hatte, ordnen oder neu fügen. Immer wieder bat er sie, noch eine Weile so ruhig zu verbleiben, daß er sie getreu nach dem Leben auffangen könne.
Im Umgang mit ihr fand er, der sonst so einsilbige, verschlossene Mensch, Lust zu Scherzen, um ihr das stille Sitzen zu erleich­tern und sie aufzuheitern. Nur das Rauchen, das er so leidenschaftlich liebte, — hat er sich doch selber später in seinem besten Selbstbildnis mit der Zigarette in der Hand gemalt, — unterließ er in ihrer Gesellschaft aus Rücksicht auf das unheilbare Lungen­leiden, von dem sie befallen war.
Dieses Leiden war es ja auch, das sie zusam­men mit den Gedanken an ihr nahes unver­meidliches Ende mit tiefem Ernst umhüllte.
Doch es war auch für ihn, der sich damals voll Stolz rühmte, im Besitz des schönstenModells von ganz Rom zu sein, ein Ansporn, sie, die er vermutlich als Letzter malen durfte, so herrlich und edel wie möglich zu gestalten.
Indessen, je länger und je öfters er sie in Bildern wiedergab als Iphigenie, als Lucrezia und Laura, als Lesbia mit dem Vogel, als Francesca da Rimini oder als Römerin in jenem Studienkopf, den er selber offen nach ihr „Nanna" benannte, immer mehr sah er in diese Frau, die ihm ihren Körper und ihr edel geformtes Antlitz hingab, eine andere, neue Seele hinein.
In ihrem Anschauen mußte Feuerbach jetzt zuweilen und mit der Zeit immer mehr jener wunderbaren fernen Begleiterin seines Lebens gedenken, der zweiten Gattin seines verstorbenen Vaters, die ihm, dem sie im Alter fast ebenso nahe stand wie ihrem Mann, eine wahre Mutter im besten Sinne geworden war. Sie, die früh die ungewöhn­liche Begabung ihres Stiefsohnes erkannt hatte, wußte ihm in der unbedingten Gefolg­schaft, die sie ihm leistete, allein die gläu­bige Gemeinde zu ersetzen, die ihm und seiner Kunst im damaligen Deutschland noch fehlte.
 
 
 
 
Ihr reines, hingebendes Wesen schwebte ihm jetzt des öfteren sozusagen als Unter­malung der Darstellungen vor, die er von Nanna machte. Sie, die Mutter, hatte ganz das Sich-Aufopfernde, das er seiner Iphi­geniegestaltung mitverleihen wollte und zu­gleich auch das Reine, Priesterliche, das jener Königstochter aus Mykenä zu eigen war.
Und gerade dieses mußte er in seiner Vor­stellung oft dem Bild seiner Mutter entleh­nen, um es in Nannas Züge zu legen, wenn er sie in einer solchen getragenen Rolle wiederzugeben hatte. Zuweilen kamen ja durch all die Pracht und Großartigkeit, die diesem Weibe von der Schöpfung verliehen worden war, ihre Herkunft und stärker noch der Umgang, den sie jahrelang gehabt hatte, erneut zum Vorschein.
Das war es auch, was Feuerbach abhielt, sie in ihm bekannte Gesellschaft zu führen. So hielt er sie von Böcklin fern, wiewohl dessen Gattin auch eine geborene Römerin war, aber ein Weib, das einem fremden Maler saß, nur verachtet hätte. Er wollte nicht, daß sie herabgesetzt wurde und daß man ihm durch einen Tadel an ihr das Ärmliche und Geringe ihrer Vergangenheit als Schu­stersfrau zum Bewußtsein brachte.
Durch diese Absperrung Nannas von je­dem Verkehr, den er pflegte, erreichte er freilich nur dies, was er gerade nicht wollte: daß sie abwechslungsbedürftiger wurde, als sie es ihrer schweren, lässigen Art nach war.
Auf die Dauer mußte sie es müde werden, daß er allein ihr den Hof machte, so herr­lich sie sich auch in seinen Bildern von ihr widergespiegelt sah.
Sie fühlte selber, daß sie auf der Scheitel­höhe ihrer Schönheit und Vollkommenheit angelangt war und wie eine ganz aufer­blühte Rose bald vor dem Verwelken stand. Gewiß! Ihr Maler verwöhnte sie, so gut er es mit seinen Mitteln vermochte. Er klei­dete sie in köstliche Seide und schmückte ihre langen, feinen Hände, die durch das Nichtstun bei ihm immer weißer, immer zarter geworden waren, mit prächtigen bun­ten Ringen oder umschlang auch ihr Haar, das wie eine dunkle Traube herunterhing, mit edlen zierlichen Ketten. Indessen, sie er­schien sich manchmal bei ihm nicht anders als Busi, seine Lieblingskatze, der er auch hin und wieder ein blaues oder rotes Bändchen oder eine kleine dünne Schelle um den Hals hängte und zudem noch allerlei Zärtlichkeiten sagte. Ja, das anmutige Tierchen durfte fast noch mehr und weitere Sprünge machen als sie, deren Aus- und Eingang ihr stets eifer­süchtiger Liebhaber streng bewachte.
Nanna mußte sich geradezu heimlich weg­schleichen, wenn sie Lust nach einem Gang oder einem Gespräch mit anderen verspürte, so anspruchsvoll und selbstherrlich schaltete er über sie und ihre Anwesenheit, um sich ihrer zu jeder Zeit, wenn ihn die Schöpferlaune überkam, als Modell bedienen zu können.
Auf einem ihrer kurzen Ausflüge, die Feuer­bach ihr zum Einkaufen von Lebensmitteln verstattete, begegnete ihr nun Haslinger nach einer längeren Zwischenzeit wieder.
Sie hatte ihn schon zu mehreren Malen in der Nähe ihrer Wohnung getroffen, wo er sich mit Vorliebe herumtrieb, seit sie von ihm als Werkstätte Feuerbachs aufge­stöbert worden war. Jedesmal schenkte sie ihm dann wie auf dem Friedhof einen kurzen Gruß. Dabei fiel ihr auf, daß er immer blasser und verfallener aussah, je öfter sie auf ihn stieß. Auch war es ihr unangenehm, daß er ihr stets zudringlicher und näher auf den Fersen folgte, wenn er sie bemerkt hatte und sie, ihre Gestalt und ihren Gang mit gierigen Blicken verschlang.
Der arme Dichter hatte sich in unbefrie­digter Sehnsucht nach dieser Frau, die nun einem andern gehörte, in den letzten Wochen völlig verwildern lassen. Sein früher so wohlgepflegter rotblonder Bart, um dessentwillen ihn die Leute hier wohl lächelnd „Barbarossa" nannten, hing ihm jetzt meist ganz wirr und zerzaust um die immer schma­ler werdenden blassen Backen.
Im Gegensatz zu Feuerbach, der einmal seiner tief verehrten Mutter schrieb: „Ich kann weder Huren malen noch mich mit solchen abgeben", war Haslinger in schlechte Weibergesellschaft geraten, anfangs aus Trotz gegen das Geschick, das ihm eine Nanna verweigerte, und hernach aus halt­loser Gewohnheit. Auch begann er sich immer mehr einem Laster zu ergeben, dem schon manche deutsche Künstler in Rom bei dem dort ebenso wohlfeilen wie wohl­schmeckenden Wein verfallen sind und dem auch sein Vorbild Waiblinger durchaus nicht abhold gewesen war: er wurde zum Trinker, und zwar in einer unaufhaltsam sich stei­gernden Weise, so daß er das spärliche Geld, das ihm aus der Heimat zutröpfelte, haupt­sächlich für das süße Rebenblut ausgab.
Das einzig Höhere, das ihn noch etwas aufrecht hielt, war die allsonntägliche Hul­digung, die er seinem toten Freunde Waib­linger abstattete. Er rang sich, wenn auch immer schwerer, stets noch ein Sonett ab, das er der Gruft des Dahingegangenen neu zusprach. Das letzte vom verflossenen Feier­tag hatte so gelautet:
 
Dank deiner Mitwelt hat dich kaum erreicht.
Almosen waren’s nur, die man dir gab,
Und kargen Ruhm nahmst du hinab ins Grab,
Du Dichter, dessen Lorbeerkranz schon bleicht.
 
Du gingst auf Erden deinen schweren Weg,
Und Ehrgeiz trieb dich und ein heißer Drang,
Die Zeit zu füllen auch mit deinem Sang.
Du wolltest hoch hinaus auf steilem Steg,
 
Doch da versagte jählings deine Kraft,
Ein Schwindel faßte dich auf halber Bahn.
Nicht fehlte Feuer dir und Leidenschaft
Noch auch der Antrieb und der holde Wahn,
 
Doch Bruchstück blieb, was du der Welt beschert.
Der Götter Segen ward dir nicht gewährt.
 
Haslinger, der in solchen Versen sein eige­nes abgerissenes Künstlerdasein mitbeklagen mochte, schlich der über sein anklebriges Wesen leicht verstimmten Nanna nicht nur auf den Gassen nach, was sie jedesmal wie­der einen ärgerlichen Auftritt von seiten des eifersüchtigen Feuerbach befürchten ließ. Nein, der Dichter verfolgte sie nunmehr auch in seiner Kunst dadurch, daß er in seiner Begehrlichkeit zahllose, meist sehr anzügliche Gedichte auf sie machte.
Auf die Dauer sah er selber ein, daß dieses schwüle Treiben, dem er sich damit wid­mete, seine sittliche Grundlage unterhöhlen mußte. So beschloß er denn, um sich dem ihn verzehrenden heimlichen Schwelgen zu ent­reißen, als Ausweg aus der Wirrnis, in der er sich verlief, eine kleine Reise zu unternehmen.
Zu seinem Unglück traf er indessen gleich bei dem ersten Aufenthalt, den er in Tivoli machte, die Frau wieder, der er zu entfliehen gedachte. Nanna wandelte am Arm Feuer­bachs durch den Garten der Villa d’Este, die ihr Maler vor allen Landhäusern in der Nähö Roms am leidenschaftlichsten liebte.
Haslinger fand gerade noch Zeit, sich hin­ter einer der dortigen hohen grauen Zypres­sen zu verstecken, als das Paar an ihm vor­überschritt.
Es war gut, daß die Wasserkünste im Gar­ten spielten. Sonst hätten die Beiden wohl das laute Herzklopfen des sich im Schatten verbergenden Dichters vernommen.
Er hatte diesen panischen Gesang, der aus zahlreichen Röhren sprudelt, einmal besun­gen, als er mit Waiblinger hier für ein paar Tage eingekehrt war, in jenen Tagen, in denen auch Franz Liszt diesen Garten Eden verherrlicht hatte:
 
Du Wasserkunst, der ich so gerne lauschte
Wie einem Stück Musik, aus bunten Tönen
Gemischt, dies Paradies noch zu verschönen,
Als ob die Erde selbst sich hier berauschte
 
Am hellen Klang, den die Gewässer leise,
Wohlabgestimmt zum Lob der Schöpfung singen:
Dort sanft und klar, wie feine Glöckchen klingen,
Und hier auf eine laut’re, dumpfe Weise.
 
Vielstimmige Wasserorgel, laß mich träumen
Bei deinem Wohllaut, der wie kühler Wind
Verweht an hohen dunkelgrünen Bäumen
 
Und bei dem Spiel, das hold vorüberrinnt,
In ewigen Gedanken lange säumen
Und wieder selig werden wie ein Kind!
 
 
Nun scheuchte die unerwartete Begegnung mit dem ihm entrissenen Frauenbild den
unglücklichen Haslinger schleunigst von dieser gefeierten Stätte weg. Er benutzte den nächsten Postwagen, um sich weiter ins Sabinergebirge zu begeben, nach Olevano, dem reizvollen Bergstädtchen mit den wun­derbaren Ausblicken in die abenteuerliche Ebene um Rom.
Hier hatte ehemals Waiblinger Feuer an einer der wegen ihrer Schönheit berühmten Frauen gefangen, als er sie in ihrer bunten Landestracht, wie eine Feenkönigin anzu­schauen, in der Kirche erblickt hatte. Das Herz seines Freundes aber geriet auch hier nicht in Gefahr, sich an eine der lieblichen Sabinerinnen zu verlieren. Seine Sinne hin­gen noch immer an der großartigen Gestalt jenes Weibes, das ihn, seit er sie zum ersten­mal gesehen, entflammt hatte.
Umsonst suchte er aufs neue, sich an Wein zu betäuben und die ihm Verlorene zu ver­gessen.
Erschöpft von leeren Träumereien und der Ausmalung von Genüssen, die ihm nicht vergönnt waren, langte er in Rom wieder an, wo er sich erneut in das liederliche Leben stürzte.
Er ließ nun auch seine schriftstellerischen Arbeiten immer mehr ruhen und verlegte sich auf das leider bei manchen Künstlern dort übliche, aber ganz verwerfliche und Schaden bringende Verfahren, sich mit Bor­gen durchzuhelfen.
über diesem tatenlosen Müßiggehen kam ihm der Einfall, eines Tages, an dem Feuer­bach wiederum mit seiner Geliebten in der Umgebung der Stadt weilte, in die Werkstatt des Künstlers einzudringen. Er wußte den Hauswirt zu bestechen, daß er ihm für eine Weile Eintritt in den Raum verschaffte, in dem Feuerbach arbeitete.
Neiderfüllt verbrachte der Dichter  die Zeit, die ihm verstattet war, das riesige, wenn auch noch nicht ganz vollendete Ge­mälde anzustarren, jene erste Darstellung der Iphigenie, wie sie auf einer Felsbank am Meeresstrand sitzt. Ja, das waren genau die Züge Nannas, ihre Bewegungen und ihre Haltung mit dem leicht nach links geneigten Maupt, auf dem die dunkle Last ihrer gewell­ten Haare wie eine Krone ruhte. Doch das Ganze war allem Irdischen und Gewöhn­lichen entzogen und in einer erhabenen Weise verklärt. Hier war sie wirklich zur Göttin oder doch, zur geheiligten Vestalin geworden, die Schustersfrau, die sich in der Werkstätte ihres Mannes zu allen möglichen niederen Verrichtungen hatte bücken müs­sen. Und selbst das Veilchensträußchen, das Haslinger nun als seine Ehrerweisung zu Füßen des Gemäldes niederlegte, wie der Gläubige dem Bildnis seiner Gottheit eine Opfergabe spendet, kam ihm hinterher nur kleinlich und nichtssagend vor der Hoheit dieses Kunstwerkes vor.
Die winzige Gabe rief übrigens einen er­neuten Eifersuchtsausbruch Feuerbachs her­vor, der den Hausverwalter mit den ingrim­migsten Vorwürfen beschimpfte, daß er es gewagt habe, jemanden in seine Malstube hereinzulassen. Dem Herrn blieb als schlauem Römer nichts anderes übrig, als seine per­sönliche Schuld an diesem Vorkommnis scharf abzuleugnen, zumal der Zorn des Künstlers sich während ihrer Auseinander­setzung noch erheblich steigerte. Immer wie­der suchte Feuerbach ihm klar zu machen, daß der Arbeitsraum eines Malers einTempel und die unbefugteVorzeigung eines noch un­fertigen Bildes eine Entweihung und Schän­dung sei. Bis der also gemaßregelte Mann schließlich mit ein paar Bücklingen erleich­tert verschwand.
Haslinger, dem dieser Auftritt erspart blieb, fuhr fort, jene Frau, die das Ziel seiner Sehn­sucht war, heimlich aus der Ferne anzu­schwärmen. Aber während Feuerbach sie in keusche Gewänder kleidete und ins über­sinnliche erhob, enthüllte der begehrliche Jüngling, von seinen Gelüsten getrieben, die für ihn Unnahbare in Versen, die völlig ungezügelt das Tageslicht scheuen mußten. Er schilderte ihre Reize, die der sittlich feste Maler zu verschweigen, zu verbergen wußte, in einer genauen eindeutigen Weise und zerstörte sich selber damit ebenso wie das Traumbild, das ihm von ihr vor­schwebte.
Nanna wurde somit, ohne daß sie es ahnte oder erkennen konnte, zum Gegenstand himmlischer und irdischer Liebe gemacht Der eine Mann brachte ihr als dem Ewig- Weiblichen die höchste Achtung durch ihre Verherrlichung dar. Und für den anderen war sie die Verkörperung der Lust und der Fetisch, dem er in maßloser Hörigkeit diente und sich hingab.
Diese unbefriedigte Schwelgerei, der Has­linger sich immer mehr unterwarf, mußte eines Tages zu einem Zusammenbruch sei­ner inneren Kräfte führen. Den Anstoß hier­zu gab eine Begebenheit, die für alle daran Beteiligten von schweren Folgen war.
Der verirrte Jüngling liebte es, seitdem er aus dem bürgerlichen Geleise geraten war, sich ganze Vor- oder Nachmittage auf dem Palatin herumzutreiben, auf jener erhaben­sten Trümmerstätte der Ewigen Stadt, auf der einstmals die Marmorpaläste der Kaiser zum Himmel ragten. Verträumt zwischen diesen Überresten eines weiland prunkvollen Alter­tums zu wandeln, das nun zerbröckelt oder doch nur noch in wenigen, mühsam bewahr­ten Mauerresten erhalten war, gewährte dem unbefriedigten jungen Dichter eine große Wonne. Diese traurigen und doch noch ge­waltigen Zeugen irdischer Vergänglichkeit, die nun von Gras übergrünt zu sagen schienen: „Alles ist eitel!", sie trösteten den unausgewachsenen Künstler Haslinger ein  wenig über die eigene Unzulänglichkeit, die ihm ständig mehr zum Bewußtsein kam. Das letzte Sonett, das er dem ihm voran­gegangenen Freunde gewidmet und über­bracht hatte, versuchte dieses Gefühl aus­zudrücken:
 
War dir das Höchste, Letzte nicht beschieden.
Warst du berufen nur, nicht auserwählt?
Und hast du dich vergebens heiß gequält,
Und krönte dich Erfüllung nicht hienieden?
 
Blieb, was du schufst, nur Stückwerk, nicht vollendet,
Das vor den besten Meistern nicht besteht,
Und ist es bald wie leichte Spreu verweht,
Was du mit deiner Kunst der Welt gespendet?
 
Solch schweres Los muß jeder von uns tragen,
Dem halb der Kranz und Preis nur zugemessen.
Hier, wo die Trümmer hoher Zeiten ragen,
 
Hier mußten du wie ich, schon bald vergessen,
Uns trauernd über unsre Kleinheit sagen:
Die Größe Roms hat dich und mich erschlagen.
 
Es erging dem erfolglosen Haslinger somit auf diesem durch seine Vergangenheit ge­weihten Boden auch wieder umgekehrt wie dem begünstigteren Feuerbach: Während dieser sich aus der gewaltigen Vorgeschichte der Stadt und dem Anblick der riesigen Spuren, die Kaiser und Päpste und Künstler hiei hinterlassen hatten, Antrieb, Kraft und Bestätigung seines hohen Slrebens holte, sog der Dichter sich nur Kleinmut und das Gefühl der eigenen Schwäche aus den Überresten einer titanischen Vergangenheit.
Inzwischen verglühte sich seine Leiden­schaft für die schöne Römerin in immer neuen Gedichten, in denen er sie und ihre körperlichen Reize feierte. Er zerlegte und zerkleinerte sich seine aus der Weite an­geschmachtete Geliebte in lauter lüsterne Verse. Und indes der Maler sie und die Schönheit ihres Körpers in seinen Gemälden zu einem Inbegriff des Edlen und Hehren mit Kraft zusammenfaßte, schlug Haslinger ihr Bild in winzige schlüpfrige Stücke. Es war so, als ob einer ein köstliches Mosaik­bild zertrümmert hätte, um sich an den ein­zelnen, ihm davon gebliebenen Steinchen zu berauschen.
Zu seinem Schaden hatte Haslinger sich jetzt auch schon morgens der Neigung zum Genuß des Weines hingegeben, auf den er bisher nur in den Abendstunden erpicht ge­wesen war, so daß man ihn in den römischen Schenken schon als Gewohnheitstrinker kannte. Halb bezecht sah man ihn oft schon in der Frühe über den Palatin taumeln.
Dort oben konnte man sich damals noch ganz ungezwungen und ungestört ergehen. Die wenigen Fremden, die um diese Zeit hier herumstreiften, beachteten diesen absonder­lichen Menschen auch kaum, der entblößten Hauptes, selber ein Wrack, zwischen den verfallenen, zerstückelten Trümmern einher­schwankte.
Nur zuweilen horchte man auf, wenn aller­lei Verwünschungen aus seinem Munde ka­men. Sie galten in der Regel dem reichen Engländer Sir Charles Mills, der damals oben über den Resten des Altertums seine an­mutige, im Geschmack der Renaissance ge­haltene Villa errichtet hatte, die samt ihren Gartenanlagen unzugänglich war und somit für die Fußgänger keinen Durchlaß bot.
Es war der Neid des unbemittelten Deut­schen auf den vermögenden unabhängigen Engländer, der aus solchen Wutausbrüchen auf Mills hervorklang. Der Nabob konnte von diesem seinem Besitztum, das er an sich gerafft hatte, tagtäglich, ohne einen Schritt tun zu müssen, frei und zwanglos die Sonne über dem Forum Romanum auf- und unter­gehen sehen, über dem campo vaccino, wie man damals den alten römischen Markt nach den Rindern benannte, die das Gras über ihm abweideten. Ja, er konnte diesen wun­dervollen Ausblick schon vom Bett aus ge­nießen. Der arme Schwabe jedoch mußte in einer kümmerlichen Dachwohnung hausen, von der man nur auf eine düstere Mauer­wand schaute.
Den Groll und die Abneigung gegen die Engländer hatte Haslinger auch von Waib­linger übernommen, der sich in einer Spott­schrift: „Die Briten in Rom" über diese un­wissenden, trockenen Genießer, die sich hier an dem Altertum und seinen Schätzen bereicherten, schon lustig gemacht hatte.
Es war an einem schönen lauen Maimorgen, als der Dichter wieder leicht angeheitert über den Palatin lustwandelte, ln einer kind­lichen Laune hatte er von den rings umher stehenden Lorbeerbäumen eine Menge Blät­ter und Zweige abgebrochen. Wobei er dachte: Mit diesem Überfluß an Sieges­laub, der hier wächst, könnte man alle Köpfe in der Walhalla des Bayernkönigs schmücken.
Er versuchte dann, sich selber einen Kranz zu winden. Aber seinen vom Trunk zittern­den Fingern wollte es nicht gelingen.
Da gewahrte er plötzlich in der Ferne Nanna, wie sie vom Tiber kommend, lang­samen Schrittes und schwer atmend die An­höhe emporstieg. Sie hatte eine Anverwandte in Trastevere aufgesucht, um von ihr Nach­richt über ihr Kind einzuholen.
Beschleunigt war sie auf dem Rückweg an dem Haus ihres verlassenen Mannes vorbeigeschlichen. Aber der Kerl hatte sie doch noch durch das Fenster seiner Werkstatt er­späht und ihr dann draußen über die Straße eine Flut von gemeinen Beschimpfungen nachgesandt, in denen sich die ganze Er­bitterung eines Verschmähten austobte.
Erst bei der Fahrt über den still dahinglei­tenden Fluß war die durch solche Schmähreden erregte Frau wieder langsam zur Ruhe gekommen.
Damals verband an dieser Stelle noch keine Brücke die beiden Ufer. Man mußte, um aus dem rechten in den linken Stadtteil Roms zu gelangen, über die alte, von Papst Sixtus erbaute Ponte Sisto gehen, wenn man hinüber wollte.
Nanna hatte diesen Umweg gescheut und darum den breiten Nachen benutzt, mit dem man den noch nicht eingedämmten und in keinen steinernen Schniirleib gelegten Tiber gemächlich mit Hilfe eines Laufseils über­querte. Man sah dabei bis weit den Strom hinauf zur Engelsburg, wo jetzt diu Sonne auf der Spitze des Schwertes des Michael glänzte.
Mit dem Stolz eines jeden gebürtigen Rö­mers auf seine Stadt genoß Nanna das prachtvolle Rundbild, das sich ihr vom Fluß aus darbot. Wie gemalt lag Rom im goldigen Licht des Morgens da. Und der Fluß spie­gelte es noch dazu in hellen Wasserfarben wieder. Von einer seiner mehr als 350 Kirchen klang ein helles Geläut und versetzte einen in jene fromme, schwärmerische Stimmung, in die man so leicht, so gern in dieser heiligen Stadt gerät, in der stets irgend ein Glöcklern seine andächtige Stimme ertönen läßt.
Aber nun drüben am andern Ufer des Tibers angelangt, mühte sich Nanna, so rasch als möglich zu Feuerbach zu kommen, der schon verdrießlich über ihren kleinen Ausgang gewesen war.
Da hörte sie sich plötzlich mit den schwül­stigsten Schmeicheleien von Haslinger an­gesprochen.
Sie bemerkte gleich an seiner wackligen Haltung, daß er nicht mehr nüchtern war. Sie kannte diesen Zustand von ihrem Schu­ster her, der sich oft, wie er sich ausdrückte, das Leben purpurrot angestrichen und sich einen Ölkopf angetrunken hatte.
Darum nahm Nanna zunächst seine brün­stigen Liebeserklärungen nicht recht ernst. Erst als Haslinger zudringlich werden und sie anfassen wollte, wies sie ihn mit einer scheuen, aber gebieterischen Bewegung in seine Schranken.
Dies offensichtliche Zeichen ihrer Ableh­nung versetzte den benebelten Dichter ganz außer sich. Er warf sich ihr zu Füßen, um ihr seine völlige Hingebung und Unterwür­figkeit zu bezeigen.
Dann, als sie sich erneut von diesem de­mütigen Anschmachter wegwandte, riß er plötzlich einen Packen beschriebener Blätter aus seiner Brusttasche und nötigte ihn ihr geradezu auf. Es waren seine Gedichte an sie und über sie, die er stets bei sich trug, die er nicht daheim lassen mochte, schon damit sie keinem anderen in die Hände fielen und ihm Unannehmlichkeiten bereiten konnten.
In einem gewissen Katzenjammer- und Ekelgefühl über sich selber, das oft so un­mittelbar dem Berauschtsein folgt, wollte er diese trüben Ausgeburten seiner Sinnlich­keit loswerden und sie derjenigen aushändi­gen, die sie in ihm entfacht hatte.
Vielleicht dachte er auch dabei, daß er sich damit freimachen könnte vön dem verwerflichen Zauber, den dieses schöne wonnevolle Weib auf ihn ausübte und daß er damit die Fäden der schwülen Lust zer­riß, die ihn an sie banden.
Nanna hatte, schon um den anstößigen öffentlichen Auftritt, den er ihr da bereitete, abzukürzen, die flatternden Papiere an sich genommen.
Sie entfernte sich darauf, so schnell sie es mit ihrem Herzleiden vermochte, zumal schon ein paar neugierige Gaffer erschienen waren, die sich an diesem ungewöhnlichen Schauspiel einer Liebesbezeigung im Freien weideten.  
Sie wollte unterwegs mehrmals diese Schriftstücke wegwerfen, denen sie nur, ohne sie lesen zu können, ansah, daß sie in deutschen Buchstaben abgefaßt waren. Zu ihremspäteren Leidwesen verwahrte sie die Blätter indessen, um sie hernach ihrem Maler zeigen zu können.
Der würde sicher klug aus ihnen werden, meinte sie , und das wunderliche Benehmen dieses Fremdlings gegen sie erklären.
Wie erschrak sie aber über das Verhalten Feuerbachs, als sie ihm, nichts Schlimmes ahnend, den Packen, den man ihr aufgedrängt ausgeliefert hatte Er überflog ingrimmig die Dichtereien, die unverkennbar in der Beschreibung ihres Körpers und seiner verschwiegensten Reize schwelgten. Und zwar in einer so ausgelasssenen unziemlichen Weise, daß es ihn aufs tiefste empörte.
Er, der in seiner Lebensführung mehr noch als in seiner Kunst für das Schickliche, das Keusche schwärmte, dem die ferne Mutter daheim stets als das Ebenbild der Reinheit und Unantastbarkeit vorschwebte, sah nun die Frau, die er sich im Geist in tausend Bildern zu erhöhen, zu vergeistigen und zu verklären suchte, lüstern herabgewürdigt und zu einer Zielscheibe fleischlicher Begier­den entehrt.
Mit welcher Scham und Entrüstung mußte er Verse wie diese lesen, die noch zu den zahmeren Ausgeburten dieses Zügellosen gehörten:
 
Die Anmut deiner weichen, weißen Glieder,
Die lässige Bewegung deines Rückens
Beim Gehen wie in deiner Art des Bückens
Bezaubern ständig mich aufs schönste wieder
 
Ach, daß ein Kleid die Reize mir verschließen
Und rauben muß, die ich nur trunken ahne!
Bloß deinen nackten Arm, er gleicht dem Schwane.
Darf ich mit meinen Augen ganz genießen.
 
Wie ich den überglücklichen beneide,
Der dich, du Marmorbild, enthüllen darf,
Wenn ich mich mit dem Traum von dir bescheide,
Der mich verzückt und mich in Fieber warf,
 
In dem ich nur den einen Wunsch verspüre,
Daß meine Hand einst deine Haut berühre !
 
Wütend erkundigte sich Feuerbach nach dem Menschen, dem Schurken, der ihr diese und ähnliche Dinge zu sagen wagte.
Aber Nanna kannte ja nicht einmal sei­nen Namen. Sie wußte nur von ihm, was sie dem Maler bereits einmal erzählt hatte, daß er gelegentlich in die Werkstatt ihres Mannes gekommen war, sich seine Schuhe restaurie­ren zu lassen, wie er es zu benennen beliebte.
„Wie wird ein dir gänzlich fremd Geblie­bener sich unterstehen, dir derartiges zu bieten!" war Feuerbachs fortwährende Ein­rede, wenn Nanna hartnäckig jede weitere Vertrautheit mit diesem Herrn ableugnete.
Er wollte es einfach nicht glauben, daß ein Unbekannter sich erdreisten konnte, sie in solch zuchtloser Weise anzuschwärmen.
„So geh’ doch in die Werkstatt zu Risi und frag’ ihn aus, ob ich mich jemals um ihn bekümmert habe! Vielleicht kannst du auch dort seine Wohnung erfragen."
Nanna wußte selber, als sie dies sagte, daß Feuerbach ihren Rat nie befolgen würde, weil er viel zu stolz war, sich auf so etwas einzulassen und mit ihrem gewesenen Mann ein Wort zu wechseln.
Infolgedessen trug sich Feuerbach allein weiter mit den Qualen seiner Eifersucht. Er hatte die lockeren Ausgeburten des Dichter­lings, das schwülstige Gemachte, wie er es beschimpfte, zum großen Teil schon ver­brannt und vernichtet.
Unter den übriggebliebenen Fetzen, zu denen er in seinem Widerwillen die Blätter zusam­mengeballt hatte, fand er eines Morgens noch ein Gedicht, das ihn besonders ergrimmte, weil es sich gegen ihn selber richtete:
 
Der Mann, der dich vor unserm Blick versteckt,
Der dich in schwere bunte Seide hüllt,
Von deines Körpers Schönheit kaum erfüllt,
Er hat das Weib in dir noch nicht erweckt.
 
Zu einem Zierbild macht er dich, das kalt
Mit Ketten und Geschmeide reich geschmückt
Wie eine Traumerscheinung uns bedrückt
In seiner leichenfarbenen Gestalt.                   
 
Wenn meine Arme dich umfangen könnten,
Ich würde dich mit meiner Glut entflammen,
Wenn mir die Götter eine Nacht nur gönnten,
Mit dir allein im Liebesrausch zusammen
 
Und ganz dem Sturm der Wollust hingegeben,
Erwachtest du an meiner Brust zum Leben.
 
Den Maler mußten diese Verse darum be­sonders aufbrausen lassen, weil sie seine Männlichkeit bezweifelten und ihn im Kern seines Selbstgefühls trafen.
im ersten Unmut wollte er alles versuchen, den Frechling, der diese Kränkung gegen ihn verfaßte, auszukundschaften und zum Zwei­kampf herauszufordern. Doch er entschlug sich dieses Plans in dem künstlerischen Feuereifer, in den er über einem neuen Ent­wurf geraten war, der Nanna als Mirjam mit der Glöckchentrommel in der Hand dar­stellte.
Was sollte er sein Leben aufs Spiel setzen, ehe dies Werk vollendet war! Hernach, wenn es fertig auf der Staffelei stand, konnte man weiter danach trachten, wie man diesen lie­derlichen Buben zur Rechenschaft ziehen und bestrafen könnte.
Haslinger fühlte sich wirklich beträchtlich erleichtert, nachdem er sich der ihn be­lastenden schwülen Bürde seiner Verse ent­ledigt hatte. Aber in der Leere, die er nun empfand, verfiel er leider noch in ver­stärktem Maße der Trunksucht und der üblen Gesellschaft, die ihm nun einen Er­satz für das verlorene Götterbild schaffen sollte.
Er war in Verbindung mit Nena gekom­men, mit der ehemaligen Geliebten Waiblingers, die diesem sogar ein Mädchen geboren hatte. Doch der Liebreiz und die kindliche Ursprünglichkeit, die sie vordem ausgezeich­net hatte, war einem Trieb ins Niedrige und Gewöhnliche gewichen.
Wie hatte sich der Freund ein eheliches Zusammenleben mit dieser Frau im Berg­dorf Olevano gedacht? Haslinger wußte die Verse auswendig, in denen der Heim­gegangene sich dies erträumte häusliche Glück, wie es wohl auch zuweilen Feuerbach mit Nanna vorschweben mochte, ausgemalt hatte:
Kehrt ich abends zurück, so spränge jubelnd
Raffaelo mir zu, der wilde Knabe,
Sich mit Jauchzen um meine Knie klammernd,
Oder riete Demetria mich zum Schutze
Vor des Brüderchens Ungestüm. Das eine
Brächte Feigen auf grünem Weinlaub und jenes
Frischen, stärkenden Wein aus der Campagna
Und Melonen voll süßen Markes, einen
Blumenkorb, den sofort die ält’re Schwester,
Scheuer gegen den Mann und dem Geheimnis
Des Geschlechtes schon nah, ihm still entwindet
Und, mit feinerem Sinn der Blumen schönste
Wählend, weiblich verschämt, mir durch des rohen
Bruders Hand zum Geschenk ein Sträußchen spendet
 
Ach! Aus diesem rührenden Familienbild; das Waiblinger sich in den wilden Sabinerbergen ersehnt hatte, war nichts geworden. Er selber war, vom Süden vergiftet, ins frühe Grab gesunken.
Und Nena, die den erkrankten Waiblinger damals bis zuletzt mit seltener Hingebung gepflegt hatte, war ohne ihn und mittellos immer tiefer in Armut und Verkommenheit gesunken.
Die Liebschaft, die Haslinger nun mit ihr angeknüpft hatte, diente auch nicht dazu, ihn aus dem dumpfen Hindämmern seiner Tage zu erheben.
Es kam ihm sogar hinterher, als das erste Verlangen gestillt war, wie ein Frevel an  dem verstorbenen Freunde vor, daß er die Frau, die Waiblinger wahrhaft geliebt, aus bloßer Begehrlichkeit an sich gezogen hatte und ihrer nun fast schon wieder überdrüssig geworden war.
Dieses Gefühl einer Schuld gegen den Toten sprach sich auch in der dichterischen Gabe aus, die er in dieser Zeit zu der Gruft  des Verblichenen trug:
 
 „Liebe und Haß", so heißt das Meisterstück,
Das du geschrieben hast, und zwischen beiden,
Den Freuden, die dein Leben bot, und Leiden,
Verlief dein schmales, blasses Erdenglück.
 
Und i< h, di’in Freund, genieße nun den Rest
Der schönen Frucht, die du zurückgelassen.
Wo du bloß nipptest, könnt’ ich heute prassen,
Wär’s auch der Nachtisch nur bei einem Fest.
 
Doch ist mir oft in allen Zärtlichkeiten,
Die mich mit ihr, die du verehrt, verbinden,
Als faßte eine Totenhand dazwischen,
 
Um herben Schmerz in meinen Schwarm zu mischen,
Dann will die letzte Lust mir scheu entschwinden,
Indes sich Zorn und Ekel in mir streiten.
 
Der Opferdienst, den Haslinger sich mit seinen regelmäßigen sonntäglichen Wande­rungen zur Gruft des Entschlafenen aufer­legt hatte, wurde immer weniger gern und willig von ihm dargebracht. Es war jetzt jedes­mal ein schwerer Entschluß für ihn, zu der dü­steren Pyramide des Cestius hinauszupilgern.
Auch hatte in seinem zerrütteten Gemüt die Liebelei mit Nena einen krankhaften Wahn hervorgerufen, der darin bestand, daß er sich nunmehr, von Waiblinger, dessen Freundin er sich angeeignet hatte, verfolgt glaubte.
In dieser seelischen Verfassung war er kaum erstaunt, als ihm folgendes unheimliche Abenteuer zustieß:
Es geschah in einer nur schwach vom Mond erhellten Nacht, als er schwankenden Schritts aus einer der von ihm oft besuchten Weinschenken in den Nebengäßchen Roms über die Piazza Barberini heimwärts tau­melte. Er schlief jetzt meistens bei Nena, weil er das mißmutige Gesicht seines Haus­wirts scheute, der ihn jeden Morgen an die rückständige Miete erinnerte.
Plötzlich sieht er eine halb vermummte Gestalt aus dem Schatten eines der hohen
Häuser auftauchen, die um diesen Platz stehen. Und im gleichen Augenblick hört er eine scharfe Stimme rufen: „Wehr’ Dich!"
„Das ist Er! Mein toter Freund!" denkt Haslinger in seiner Trunkenheit und irren Vorstellung und bietet, statt zurückzusprin­gen und um Hilfe zu rufen, seine offene Brust dem Angreifer dar. Wobei er noch sagt: „Kommst du, um Rache an mir zu nehmen? Stoß zu! Ich hab’ es verdient."
Und schon sitzt ihm ein Messer dicht unterhalb der Lunge in der Brust. Und er bricht blutend auf dem Pflaster zusammen.
Es war nicht, wie er hinterher noch länger im Wundfieber vermeinte, der Geist und Schatten Waiblingers, der ihn getroffen hatte, sondern einer der Liebhaber Nenas, ein gemeiner Zuhälter, der dem verwünsch­ten Nebenbuhler nachgegangen war, um ihn meuchlings aus dem Wege zu räumen.
Zwar hatten die Stechereien, die zu Waiblingers Zeiten auf den Straßen Roms so üblich waren, daß er nach Hause schreiben konnte: „Wo ein Deutscher Ohrfeigen aus­teilt, gibt’s hier Dolchstöße", sich infolge des strengeren Sicherheitswesens etwas gelegt. Zum Kummer aller derjenigen Romschwär­mer, für die dieser Zustand einen gewissen Räuberzauber gehabt hatte. Urteilte doch
selbst der ehrbare Wilhelm von Humboldt hierüber: „Es gäbe für mich hier nur zwei gleich schreckliche Dinge: Wenn man die Campagna di Roma anbauen und Rom zu einer polizierten Stadt machen wollte, in der kein Mensch mehr Messer trüge. Kommt je ein so ordentlicher Papst, was aber die 72 Kardinäle verhüten mögen! so ziehe ich aus." Jedoch ereignete es sich auch jetzt, besonders wenn eine Frau im Spiel war, noch zuweilen, daß einem beneideten Fremdling eine scharfe Waffe zwischen die Rippen fuhr.
Die Nachtwache brachte den bewußtlos gewordenen Haslinger ins nächste Kranken­haus, wo man ihn im Verlauf einiger Wochen wieder notdürftig zurechtflickte, da die Ver­letzung sich als nicht lebensgefährlich her­ausgestellt hatte.
In diese Zeit fiel das erste schwere Zerwürf­nis zwischen Feuerbach und Nanna. In seiner ständig sich noch steigernden Eifersucht untersagte er ihr diesmal die Teilnahme am Karneval, die er ihr in den Jahren zuvor stets verstattet hatte.
Nun läßt sich kein Römer und erst recht keine Römerin dies Fest gern entgehen, in dem die Stadt wie närrisch außer sich ge­rät und auf ihrer Hauptstraße, dem schmalen Corso, bis tief in die Nacht das bunte Mas­kentreiben hin- und herwogt. Unter einem Regen von Papierschlangen, Zuckerstücken und Blumen drängen sich viele tausend Men­schen in den verschiedensten Masken lachend, schreiend- und neckend aneinander vorüber. Selbst die geistlichen Herren sind vor die­sem ausgelassenen Treiben nicht sicher. Und wo man einen von ihnen in seinem schwar­zen Priestergewand erwischt, wird er mut­willig von allen Seiten mit Gips oder Kreide beworfen.
Da ihr nun die Erlaubnis, sich unter die fröhliche vermummte Schar zu mischen, von
Ihrem Herrn und Liebhaber verweigert wurde, beschloß Nanna, sich selber diese Freiheit herauszunehmen, und benutzte einen kleinen Ausgang, den er machte, um schleunigst in einem schon seit Tagen bereitliegenden Mas­kenmantel zu entkommen.
Das setzte hinterdrein einen höchst ärger­lichen Zwist mit Feuerbach ab, der noch er­neut durch einen Besuch aufflammte, den ihm etwas später der Herr von Kreidel mit einem reichen, älteren Engländer namens Sterling abstattete.
An sich war nichts Auffallendes, Unge­wöhnliches bei diesem Besuch. Die in Rom weilenden Ausländer pflegten nach dem Fa­sching gern zu ihrer Unterhaltung in die Werkstuben der dortigen Maler einzukeh­ren. So hatte kürzlich auch der wieder ein­mal in Rom anwesende Bayernkönig Ludwig den überraschten Feuerbach unversehens mit seiner Gegenwart beehrt, ohne freilich ein Bild von ihm zu kaufen, sondern er hatte es nur dabei bewenden lassen, den schönen Kopf des Künstlers zu bewundern.
Was diesen nun bei der Aufwartung der beiden anderen Herrschaften verdrießlich stimmte, war die Tatsache, daß sie offen­bar seinem Modell mehr Aufmerksamkeit schenkten als den Gemälden, die er von ihr gemacht hatte. Besonders Sir Sterling wid­mete sich unterstrichen, soweit ihm dies mit seinem radebrechenden Italienisch möglich war, der schönen Nanna selber, die sich nicht genug über seine drollige Sprechweise ver­gnügen konnte.
 
 
 
Ohne Zweifel hatte der Engländer trotz seiner Jahre und seiner Nüchternheit Feuer an der Römerin gefangen.
Das bekam noch mehr als Feuerbach der Herr von Kreidel zu spüren, dem Sterling nach dem Verlassen der Arbeitsstätte des Malers noch lange von dieser wundervollen Frauenerscheinung vorschwärmte.
Kreidel ging ohne weiteres auf dieses Lob ein, das ihr gespendet wurde. Er war dem vermögenden Herrn durch Einladungen und Zuwendungen verpflichtet und sann nun auf eine billige Gelegenheit, sich dafür erkennt­lich zu zeigen.
Dabei fiel ihm der Dichter ein, der ihm schon einmal beim Empfang des Bayernherr­schers einen guten Dienst erwiesen hatte. Denn seine Verse hatten damals allgemeinen Beifall gefunden.
Wenn er ihm jetzt ein Gedicht zum Preise Nannas bestellen würde, so konnte er sicher sein, damit Herrn Sterling aufs neue für sich einzunehmen.
Er traf den eben halb genesenen Haslinger auf seinem Bett liegend. Er war noch so ge­schwächt, daß ihm jeder Ausgang schwer fiel.
Kreidel brauchte seinem mittellosen Lands­mann nicht lange zu beschreiben, wen er diesmal besingen sollte. Zu seiner Verwun­derung war Haslinger sogleich unterrichtet, um was es sich handelte. Er war im stillen heilfroh über diesen Auftrag. Konnte er doch von dem Erlös dafür einen Teil seiner Schul­den und Anleihen bezahlen, die er während seiner Erkrankung mehr noch als sonst hatte aufnehmen müssen.
Allerdings galt es diesmal, Nanna ganz ehrbar und züchtig zu feiern. Und es gelang ihm in diesem Sonett, das er, ermattet von der Wunde, die ihn zuweilen noch schmerzte, mit Tränen niederschrieb:
 
Der Zauber deiner wehmutvollen Züge
Zieht jeden an, er muß sich ihm ergeben,
Ahnt er in ihnen doch ein höheres Leben,
Fern von der Roheit, Schlechtigkeit und Lüge.
 
Der Rahmen deines schweren schwarzen Haares
Umschließt dife langen Schläfen und die Brauen
Der stillen Augen, die versonnen schauen
Ernst in ein ewig Weites, Wunderbares.
 
Voll weicher Demut und zugleich voll Würde
Ist deines hohen Nackens sanftes Neigen.
Stolz trägt er deiner Anmut schwere Bürde.
 
Da müssen alle wilden Wünsche schweigen
Vor jener Hoheit, die den Frau’n zu eigen,
An deren Hand wir in den Himmel steigen.
 
Das Gedicht, das Herr von Kreidel selbst­bewußt wieder als sein eigenes ausgab, ver­fehlte nicht seinen Zweck, indem es dem be­güterten Engländer derart wohlgefiel, daß er es in seine Muttersprache übersetzte.
Kreidel sicherte sich im Verlauf der näch­sten Wochen noch dadurch weiter seine Gunst, daß er mehrere Male zwischen ihm und Nanna den Vermittler spielte.
Sir Sterling mochte sich selber nicht mehr vor Feuerbach sehen lassen, weil dieser ihn, als er zum zweitenmal gekommen war, äußerst unhöflich behandelt hatte. Für Krei­del war es schon als Landsmann leichter, sich an den launenhaften Feuerbach heran­zumachen. Auch hatte er ein dickes Fell und ließ sich nicht ohne weiteres abtrumpfen, ob­wohl ihm der Maler ziemlich deutlich seine geringe Zuneigung für ihn merken ließ.
Bei seiner mehrfachen Anwesenheit fand der geleckte Herr nun jedesmal Mittel und Wege, der in allem, was Heimlichkeit betraf, wie die meisten Italiener äußerst gewandten Nanna verschiedene Geschenke zuzustecken, die ihm von Sterling für sie übergeben wor­den waren.
Es machte dem Höfling in Kreidel einen teuflischen Spaß, durch solche Schliche hin­ter dem Rücken Feuerbachs das Herz seines Modells in Verwirrung zu bringen. Zu fade, um niederträchtig zu sein, hatte er doch seine Freude an trüben Machenschaften. Zu­mal wenn sie einer Frau Unruhe verursach­ten, da selber ein ausgesprochener Wei­berfeind war.
Zwar war auch diese Regung in ihm nicht echt und ursprünglich. Er bezog sie aus den Schriften Schopenhauers, der damals seinen starken Einfluß auf die Geister und Gemüter in Deutschland auszuströmen begann. Auch auf die zeitgenössische Künstlerwelt legte sich seine weltschmerzliche Lehre wie ein düsterer Schatten, dem sich selbst ein Mann wie Feuerbach nicht entziehen konnte und dem einer seiner römischen Gefährten, Hans von Maries, ganz und gar unterlag.
Auf Nanna, die wie die meisten Frauen in Italien Schmuck leidenschaftlich liebte, wirk­ten die Gaben, die ihr der reiche Engländer auf dem Umweg über Kreidel zukommen ließ, mehr und mehr verführerisch. Zwar mußte sie diese funkelnde Pracht scheu vor den argwöhnischen Blicken ihres Malers ver­bergen. Aber das hinderte sie nicht, sich in Gedanken mit ihnen und dem Spender, von dem sie herrührten, zu beschäftigen.
Im Gegenteil, sie machte sich in ihrer Ab­geschiedenheit von dem gesellschaftlichen Treiben der Welt ganz übertriebene Vorstel­lungen von dem Vermögen des Herrn Ster­ling. Und konnte nicht umhin, gelegentlich Vergleiche zu ziehen zwischen dem üppigen, verschwenderischen Leben, das sie an der Seite jenes Krösus führen könnte, und diesem bescheidenen und beengten Dasein, mit dem sie sich als Künstlerliebchen begnügen mußte.
Während Nanna so im stillen schon mit dem Vorhaben spielte, eines Tages ihren bis­herigen Herrn und Freund zu verlassen, um zu einem vorteilhafteren Versorger hinüber­zuwechseln, trug sich der arme Haslinger mit dem Plan, dieses irdische Jammertal gänzlich aufzugeben.
Seine Gesundheit, das mußte er sich fort­gesetzt mehr und mehr klarmachen, hatte einen tiefen Sprung bekommen. Anscheinend war die Lunge doch ein wenig mitverletzt worden, wenn man es auch im Krankenhaus, schon um den abgerissenen, fast verhun­gerten Kerl loszuwerden, nicht wahrhaben wollte.
Mit Nena hatte er gänzlich gebrochen, seitdem sie zu dem Mordbuben hielt, dem er beinahe zum Opfer gefallen wäre.
Völlig haltlos geworden, überließ sich Has­linger nun ungehemmter als zuvor dem Trunk, so daß man ihn selten mehr nüchtern traf.
„Wer haßt, ist zu bedauern und mehr noch fast, wer liebt!" Diesen Vers Waiblingers konnte er jetzt wohl minutenlang vor sich hinsprechen, nachdem ihm die Frau des Freundes roh den Abschied gegeben hatte.
Mit dem letzten Rest der sittlichen Kraft, die in ihm war, zu Rate gehend, sagte sich der schiffbrüchige Mensch, daß es das Beste für ihn sei, ja, das Einzige, was ihm noch übrig bliebe, ein Ende mit sich und seiner irdischen Pilgerfahrt zu machen. Er entwarf hierzu einen ganz genauen Plan, den er vor­schriftsmäßig wie einen höheren Befehl aus­führen wollte.
Noch ein letztes Mal suchte er am nächsten Sonntagmorgen die Gruft Waiblingers auf und spendete dem entschwundenen Freund diese dichterische Gabe:
 
So wie auf deinem dunklen Grab zu Füßen
Der Pyramide aus vergang’ner Zeit
Die halb zerbrochne Säule, dir geweiht,
Sich ernst erhebt, den Wandrer still zu grüßen.
 
So wm dein Leben auch und so dein Schaffen ,
In dieser Welt: Es wuchs nicht zu der Größe,
Die du erträumtest, und die harten Stöße
Des Schicksals ließen dich zu bald erschlaffen.
 
Die Ihr die Großen dieser Erde preist
Und ihren Sieg mit lautem Jubel ehrt,
Weint eine bittre Träne auch dem Geist,
 
Dem auf der Kampfbahn kein Erfolg beschert.
Er bleibt, wenn auch gescheitert und entgleist,
Des frommen Mitgefühls der Besten wert.
 
Sodann betrachtete sich Haslinger zum Abschied nochmals das Sterbehaus des Da hingegangenen in der Via del Mascherone Nr. 63, in der Nena, die sich nun mit einem niedrigen Kerl abgab, den kranken Waib­linger zu Tode gepflegt hatte.
Beinahe wäre er in dieser engen, finsteren Altstadtgasse Roms noch mit Feuerbach zusammengestoßen, der aus dem nahen Palazzo Farnese kam, wo er sich die Wandgemälde der Carracci angeschaut hatte.
Er erkannte ihn von weitem an seinen hellen gewürfelten Nankinghosen, die er un­ter einem dunkelgrünen, weich verschnürten Rock trug. Der flatternde Schlips und der tief in den Nacken gedrückte hohe Hut gaben ihm heute etwas besonders Verwegenes und Draufgängerisches, was er sonst nicht hatte. Grade darum suchte der kranke Dichter ihm aus dem Wege zu gehen.
Er fühlte sich der Erde schon so ab­gewandt, daß er eine Auseinandersetzung mit dem Maler, die ihm womöglich gedroht hätte, vermeiden wollte. Schnell schlich er sich darum über den Blumenmarkt, wo einst der Scheiterhaufen für Giordano Bruno ge­brannt hatte, in eine ihm bekannte Wein­schenke der Via de Chiavari, wo er auf einem der aus Stroh geflochtenen Stühle, die wackelig auf dem Straßenpflaster stan­den, Platz nahm und sich ein Glas ein­schenken ließ.
Er pflegte jedesmal, wenn er in diese wink­lige Gegend der Stadt kam, hier einzukeh­ren, weil er vermutete, daß an dieser Stelle, wo er jetzt im Kreise römischer Kleinbürger saß, die Bildsäule des Pompejus emporgeragt habe, zu deren Füßen Cäsar, von 23 Dolch­stichen durchbohrt, niedergesunken war. Dem Schatten des größten Römers weihte er dann jedesmal, so auch heute, eine Trank­spende, die er hier auf die Erde goß.
Den Tag darauf sollte gleichfalls für ihn die Reise ins Unbekannte angetreten werden. So war es in ihm beschlossen.
Er hatte in den letzten Wochen eine Un­menge Schlafpulver gesammelt. Während seines Aufenthaltes im Krankenhaus war er mit einem jungen deutschen Arzt dort be­kannt geworden. Der hatte ihm, weil er stän­dig über ruhelose Nächte klagte, einschlä­fernde Arzneien verschrieben, die Haslinger sich allesamt für die Fahrt in den ewigen Schlummer aufsparte.
„Mit zwölf dieser Pülverchen, auf ein­mal, genossen, könnte man einen Stier umbringen!" war ihm versichert worden. Er hatte sich schon an die dreißig zurück­gelegt.
An einem herrlichen klaren Frühlingsmorgen wanderte er durch die Porta San Lorenzo zur Stadt hinaus. Gleich hinter dem Tor öffnete sich der Blick auf sein geliebtes Sa­binergebirge.
Unterwegs stärkte er sich wiederholt in den zahlreichen Osterien, die einladend die
Straße begleiteten, so daß er immer mehr in eine gehobene Stimmung geriet.
Der Anblick der gewaltigen endlosen Trümmer der ehemaligen Wasserleitungen, die wie riesige Gerippe über der öden, langen, zerrissenen Ebene der römischen Campagna lagen, machten den zum Tode Bereiten wie­der ernster. Trillernd stiegen ein paar Ler­chen empor und unterbrachen die Totenstille dieser traumhaften Landschaft.
Haslingers Erinnerung schwebte nach der Stadt zurück, die hinter ihm lag, und nach der Frau, die er lange Zeit unaufhörlich mit seinen Wünschen umkreist hatte.
Er setzte sich zur Rast auf das Bruch­stück eines mit verwitterten Bildwerken ge­schmückten zerborstenen Sarkophages. Und verharrte dort eine Weile in jener halb lie­genden Stellung, ähnlich jener, in der Tisch­bein ehemals den sinnenden Goethe in die­ser Gegend gemalt hatte.
Über seinen Gedanken an Nanna warf Haslinger noch ein Gedicht an sie auf ein Blatt, das er bei sich trug, und entzündete sich wiederum an der glühenden Vorstellung, die er sich von ihr machte. Zu­gleich auch wuchs in seiner hocherregten Vorstellung das Bild dieser Römerin mit dem ihrer Stadt zusammen, deren Sumpfluft, die im Sommer damals oft aus der Wüstenei der Campagna aufstieg, ihn mit­vergiftet hatte.
Denn so stand Nanna jetzt vor ihm:
 
Du müßtest schweifen, jener Wölfin gleich,
Die einst die beiden Ahnherrn Roms gesäugt.
So sah ich dich in Träumen, wie mich deucht.
Als Liebende wie Rasende zugleich.
 
Dein Kleid, es hing in Fetzen um dich her
Und zeigte dich in deiner nackten Pracht.
Dein Mund hat mich verlockend angelacht:
„Begehre, was du willst! Ich geb’ dir mehr."
 
Verführerin, ich bin dir nachgejagt
Vor Lust nach dir. Schenkst du dich endlich mir?
llnM du dich mir so lange nur versagt,
 
Um mich zu steigem noch In meiner Gier,
Nun siehst du mich, – du hast zu lang gezagt, —
Unholdin du, zerbrochen neben dir.
 
Jetzt steht Haslinger auf und pilgert wei­ter durch dir ergreifende Öde der Campagna seinem Ziele zu.
In der Ferne tauchen vor den noch im bläulichen Frühdunst liegenden Bergen die Überreste der Villa Adriana auf. Nach einer guten Stunde Wegs biegt er zu ihr von der Landstraße ab.
Inzwischen ist es wärmer geworden. Und er freut sich schon auf die Einkehr in dem niedrigen Gasthaus vor dem Zugang zu den Palastanlagen jenes eigentümlichsten römi­schen Kaisers Hadrian.
Leider überkommt ihn dicht vor dieser er­sehnten Raststätte ein Hustenanfall, wie er in letzter Zeit häufig seine Brust durchhöhlt. Die Wirtin rückt ihm besorgt einen Stuhl näher.
Langsam läßt die Erschütterung nach. Er stellt selbst im stillen sein Krankheitsbild fest: „Nach einem Viertel-, höchstens einem halben Jahr müßtest du doch von der Erde verschwinden!"
Dann läßt er sich eine üppige Henkers­mahlzeit bringen: Kalte Eier, Anchovis, Ra­dieschen und andere Vorspeisen. Hernach trägt man einen Fisch auf. Eine Makrele. Sie sei frisch in der Frühe von Anzio gekommen.
Ein Stück Lammbraten mit Makkaroni kann er nur mehr zur Hälfte genießen.
über dem Käse und den Früchten nickt er ein wenig ein. Gewiegt von dem Frascati­wein, dem er reichlich zugesprochen hat.
Wie er langsam wieder erwacht und zum Bewußtsein kommt, hat die Sonne schon ihre Scheitelhöhe überschritten.
Er läßt sich schwarzen Kaffee kommen und leert, zusammenschauernd, vorher noch die neue Flasche, un mezzo litro, die vor ihm steht.
Den Rücken der Speisekarte benutzt er, um darauf diese letzten Verse, die Nanna gelten, zu schreiben:
 
Du warst schon eine der Sabinerinnen,
Die sich beim Fest die jungen Römer raubten
Und in die Hütten trugen, die umlaubten,
Das Liebesspiel mit ihnen zu beginnen.
 
Auch ich war in der Schar und hob dich trunken
Empor, ob du dich sträubtest in den Lüften.
Ich fühlte stolz die Rundung deiner Hüften,
Weich in die Beuge meines Arms gesunken,
 
Und schleppte dich, ohnmächtig, wie du warst,
An meinen Herd und auf mein Lager hin,
Und ob du noch mit Zärtlichkeiten sparst,
Ein erster Kuss von dir ist schon Gewinn.
 
Und deine Keuschheit schmilzt in meiner Glut,
Wenn Herz an Herz und Seel’ an Seele ruht.
 
Kurz danach bestellt er seine Rechnung. Laßt sich noch eine Korbflasche voll Wein füllen, um sie mitzunehmen. Scherzt mit der Wirtin. Zahlt. Und begibt sich schwankend durch die dunkle Schattenstraße der grau­grünen Zypressen in den weiten, trümmerübersäten Garten, der diesen weiland Som­merpalast des Herrschers Hadrian umgibt.
Nur kurz verweilt er bei den mancher­lei Sehenswürdigkeiten: dem griechischen Theater, der Poikile, einer ehedem bunten, rechteckigen Gartenhalle mit einem großen Wasserbecken in der Mitte, bei dem Saal der Philosophen, in dessen Nischen einst Standbilder alter Denker und Dichter waren, sowie bei der Piazza d’Oro, einem Hof, um den früher 68 Säulen prangten.
Ein paar Blicke wirft er auf die Nachbil­dung des Tals Tempe und des Kanals, der auf die nachgeahmte ägyptische Stadt Kanopus mit dem berüchtigten Serapistempel führte.
Noch einmal genießt er flüchtig diese nur mehr in Splittern vorhandenen erhabenen Spielereien eines kaiserlichen Sonderlings. Er winkt dem überwachsenen Lauf des nach­gebildeten Höllenflusses einen schmerz­lichen Gruß zu, der „Willkommen!" und „Lebewohl!" in eins zusammenfaßt.
Dann schreitet er entschlossen seinem End­ziel entgegen. Es ist ein verfallener unter­irdischer Gang, der einmal hier eine Bade­anlage mit einer anderen verband.
Auf dem Rasen, der darüber gewach­sen ist, hat er.sich einmal mit Waiblinger zu einem Frühstück im Freien gelagert und sich dabei an der Aussicht auf das Tempel-Tal und auf Tivoli geweidet. Sie haben von der sagenhaften Fürstin Zenobia von Palmyra geplaudert, die hier in der Neil 10, von einem römischen Kaiser gefan­gengehalten, gestorben sein soll, nachdem man sie der Menge im Triumphzug vor­geführt habe.
In Gedanken hierüber und an Nanna for­men sich in seinem wirren Kopf noch ein paar Verse zu ihrer Ehrung:
 
Wie eine Königin wollt’ ich dich halten
In meiner Haft, du solltest nichts entbehren.
Nur meiner  Liebe müßtest du dich wehren,
Zu maßlos ungestüm mit dir zu schalten.
 
Ich würde dich dem Pöbel nicht vergönnen,
Noch seiner Schaulust deine Schönheit zeigen.
Von mir gefangen,bliebst du nur mein Eigen.
Und dürftest doch mir ganz gebieten können.
 
Aber er fühlt sich zu müde und zu schwach, den Abgesang zu bilden.
Der Neid auf den begünstigteren Feuer­bach und die Eifersucht, die ihn jahrelang
immer mehr vergiftet hatte, trübt nun auch noch seine letzte Stunde.
Er nimmt noch einen Schluck Wein zu sich. Dann wirft er die Flasche als seinen Abschiedsgruß an die Erde ins Gras. Mag sie dort liegen bleiben und von irgendeinem Vorüberwandernden gefunden werden oder ein Schlänglein oder eine der vielen Eidech­sen verwundern, die hier über die Trümmer und durch den Rasen rascheln.
Haslinger schleicht sich durch eine schmale, halb vermauerte Öffnung in den kellertiefen Gang. Er sucht sich eine Mulde zwischen den Quadern aus.
„Dort muß sich gut und ungestört ruhen lassen!" hat Waiblinger bei ihrem Hiersein mit einem Blick in das finstere Gewölbe ge­äußert. Und nun folgt sein Freund dieser Weisung.
Er kriecht und zwängt sich in einen der Einschnitte zwischen zwei riesigen Steinen. Nur weil er von seiner Krankheit abgema­gert und unwahrscheinlich dünn geworden ist, gelingt es ihm überhaupt hindurchzu­kommen.
„Bis man zur Mumie oder zum Knochen­gerüst geworden ist, kann man hier unbe­helligt liegen!" denkt er und streckt sich zum ewigen Schlummer aus.
Und nun verschlingt er das aufgesammelte Gift begehrlich, als wenn es ein Leckerbis­sen wäre. Er vernimmt noch ganz leise aus der Ferne, wie eine Schafherde oben über das rasenumgrünte Gebröckel der vernichteten Bauten vorübertreibt. Und glaubt auch den Ruf des Hirten zu hören, der seinen Hund antreibt.
Es klingt wie ein scharfer Laut mit zwei „I”, als wenn es „Kritik" hieße, jenes scheuß­liche Wort, das einem Waiblinger verhaßt gewesen und der Kunst so zuwider ist.
Und über diesem letzten irdischen Ge­räusch sinkt Haslinger in die unendliche Ruhe des Todes.
„Wo mag wohl der kränkliche hustende Fremdling geblieben sein?” fragte am Abend die Wirtin den Kustode, der das Tor zur Villa Hadrians verschloß.
„Ich weiß es nicht”, meinte dieser: „Ver­mutlich ist er weiter hinaus nach Tivoli ge­wandert." Man nahm es damals noch nicht so genau wie heute mit der Absperrung sol­cher Bezirke.
„Mag sein!” stimmte drum auch die Frau ein: „Er sah so aus, als ob er sich einen letz­ten guten Tag auf Erden machen möchte."
Es war eine merkwürdige Schicksalsverbin­dung, daß gerade in dieser Zeit, wo der welke Dichter das Weite aufsuchte, auch Nanna sich dem Maler und seiner Kunst, der sie so lange gedient hatte, entzog.
Die vielen Geschenke, die der reiche Ster­ling ihr durch Herrn von Kreidel zustecken ließ, hatten ihre Wirkung auf die schmuckliebende Frau nicht verfehlt. Sie erträumte sich einen geradezu märchenhaften Reich­tum hinter diesem Engländer und ein großes Dasein voller Vergnügungen, die ihr an sei­ner Seite erwachsen würden.
Sterling war indessen auch ständig dring­licher mit seinen Anträgen geworden und hatte sie wissen lassen, daß er sie zu jeder Stunde in seiner Wohnung mit Freuden er­warten würde.
So entschloß sich Nanna denn eines Abends, nachdem sie vorher, was ihr an ihren Sachen und Kleidern lieb und wert war, unbemerkt fortgetragen hatte, ihre Unterkunft bei Feuer­bach, die ihr nunmehr wie ein Gefängnis vorkam, zu verlassen.
Als er eine Weile später, nachdem es schon dunkel geworden war, nach Hause kam, fand er das Nest leer. Er sah es auf den ersten Blick, daß sie von ihm gegangen war, und freute sich fast darüber, daß sie ihm dies nicht noch durch einen Abschiedsbrief aus­drücklich kundgetan hatte.
Dann aber kam eine unsägliche Traurig­keit über ihn. Er warf sich auf das Bett, das noch ihren Duft behalten hatte, und strpmte sich in einer endlosen Flut von Tränen aus.
Er konnte wie wenige Männer weinen, und oft waren ganze Taschentücher davon feucht geworden, daß er sie zum Trocknen aufhängen mußte. So lange, so sehr hatte er aber in seinem ganzen Leben noch nicht bit­tere Zähren vergossen wie jetzt, da ihm die Geliebte, die von ihm zum Himmel erhoben worden, genommen war.
Endlich stand er auf. Er sah wild in dem Zimmer umher. Es schien ihm ganz kahl ge­worden ohne sie, der er hier wie einer Göttin gehuldigt hatte.
Er zündete sich eine Zigarette an, um sich zu zerstreuen. Selbst das Rauchen war von ihm aus Rücksicht auf sie in ihrer Nähe ver­mieden worden.
„Wer wird mich nunmehr anfeuern?” dachte er grimmig spöttisch in den blauen Rauch.
Dann ging, dann lief er hinaus ins Freie. Er mußte frische Luft um sich haben. Drau­ßen stand oder wanderte er wohl eine Stunde und länger auf der Piazza Barberini, seinem Lieblingsplatz in Rom, hin und her, seine Augen immer wieder auf die Venus, seinen Lieblingsstern, gerichtet, der über dem Gan­zen am Himmel stand. Der Triton, von Bernini’s Hand, blies unaufhörlich aus seiner Muschel den Wasserstrahl in die Höhe, der plätschernd in das Becken zurück­rauschte.
Der Künstler fühlte sich so einsam, mutlos und weltverloren wie nie. Und sein Leben dünkte ihn so wertlos geworden, daß ihm kein halber Bajocco mehr daran lag.
Ein paarmal murmelte er zum Trost vor sich hin: nO esperance!" Diesen Ausspruch seines geliebten Percy Heißsporn, der auch sein Losungswort geworden war.
Ohne die Hoffnung wäre er wohl in dieser Nacht zugrunde gegangen oder hätte sich selber wie der zerschellte Haslinger den Tod gegeben.
Schließlich wankte er ganz übermüdet und erschöpft in seine kahle Wohnung zurück. Mit zerrissenem Herzen kroch er in sein ver­lassenes Lager, in dem er sonst mit ihr ge­ruht hatte.
Er las noch eine Seite im Don Quixote, der für ihn das Buch der Bücher war. Dann übermannte ihn der Schlaf und trug ihn in seine Träumen zur Mutter und weit weg von hier und den Enttäuschungen die er erlitten hatte.
Am nächsten Morgen stand er als ein anderer Mensch auf. Er war fest entschlossen seine Vergangenheit mit Nanna nunmehr wie eine falsche Laune abzuschütteln. Noch immer schmerzerfüllt und doch schon gefaßt, schrieb er jenen rührenden Liebesbrie an Henriette, seine zweite Mutter, in der Sätze wie diese stehen: „Du sollst Dich in meiner Liebe gehoben fühlen. Sprich Dich aus: Soll ich kommen auf einige Zeit, mich mit Dir besprechen? Habe ich gefehlt gegen Deine Liebe, so verzeihe mir! Du hast gelitten meinethalb.Und das soll und darf nicht mehr sein. Was ist mir die Kunst, was Rom wenn es auf Kosten des Heiligsten gehen soll, was Menschen überhaupt verbindet! Was Du für mich gelitten und getan hast, wer hätte es getan? Ich fühle mich heute recht unglücklich. Ich denke und denke. Auch ich, liebe Mutter, bin allein wie Du. Mein Schaffensdrang drängt vorwärts. Mein Herz ist bei Dir, denn was wäre Größe ohne die Liebe? Ich will mich morgen in die Ar­beit vergraben. Vielleicht zeigt mir mein Genius den Weg, den ich zu betreten habe. Was auch Dein stiller Wunsch ist, sprich ihn aus, er soll mir Gebot sein. Daß ich hier für meine Kunst alles habe und draußen nichts, das weiß ich. Aber Dich habe ich nur einmal im Leben.”
Und der Brief, von dem Henriette sagte, daß er für sie das ganze Leben aufwiege, schloß: ,,Ich steh’ ganz einsam da, muß alles, Freud’ und Leid in mir selbst verarbeiten. Meine Hoffnungen für das, was man Leben heißt, sind begraben. Illusionen habe ich nicht mehr. Aber in allen Kämpfen war es immer die innere Stimme, die mich aufrecht hielt: Bleibe dir selbst treu und deiner Kunst! Ich will deshalb nicht Märtyrer werden. Nein! Ich möchte hinaufkommen, um andern helfen zu können. Ich hätte dir soviel zu sagen. Ich leide im Gemüt, ich kann’s nicht leugnen. Aber ich will stark und fest blei­ben. Alt kann ich nicht werden. Und das ist ein Glück, wenn die Laufbahn kurz verzeich­net ist."
 

 

 
Nun kamen Wochen und Monate, in denen der Hintergangene nach dem Verlust Nannas, seines Modells, das für den Künstler die Seele ist, wie er selbst bekannt hat, sich langsam wieder aufrichtete.
Ja, es kam sogar der Zeitpunkt, wo er sich aufs neue mit einer Römerin verband, mit der erst siebzehnjährigen Lucia Brunacci, die gleichfalls wie Nanna unglücklich ver­heiratet war. Auch sie schlich sich von ihrem Manne fort, um dem Maler für seine Frauengestalten zu stehen. Selbst den Kopf des jugendlichen Alcibiades in seiner Dar­stellung des Gastmahls des Plato, die er da­mals begann, bildete er nach ihren Zügen.
Und doch schimmerte es durch diese Bil­der stets wie eine Wiederholung Nannas, wenn er diese zweite Geliebte malte.
Vielleicht war es auch nur die Ähnlich­keit, die Lucia mit Nanna hatte, die ihn zu ihr getrieben. Hatte sie doch dieselbe Fülle schwarzen und gleichgeordneten Haares, das so tief ansetzte, und die nämliche Kopfform, die ihn an der Schustersfrau entzückt hatte.
Nannas Antlitz und Erscheinung waren ihm so zu eigen geworden, daß er sie mit Leich­tigkeit auch in die neue Römerin hineinsah, die durch dieselbe Abstammung das gleiche Gepräge von der Schöpfung wie Nanna mit­bekommen hatte.
Ja, es geschah des öfteren, daß er sie, die ihm die Entschwundene ersetzen mußte, „Nanna” nannte. So diesem Urbild angepaßt erschien sie ihm.
Aber ganz konnte Lucia die schmerzliche Erinnerung an diese erste Frau nicht in ihm erlöschen, wie er sich ihr auch nicht mehr mit der unbedingten rückhaltlosen Hinge­bung anzuschließen vermochte, mit der er sich Nanna anvertraut hatte.
Gewiß! Lucia mochte jünger sein. Sie mochte sich auch besser seiner Wohnung und Wäsche annehmen und fraulicher und pfleglicher für ihn sorgen als Nanna. Aber der edel-traurige, wehe Zauber, der diese wie eine dem frühen Tode Geweihte umweht hatte, fehlte jener noch dem Leben gern ent­gegenblühenden kindlichen Römerin.
In Nanna hatte Feuerbach sein ganzes Schicksal als das eines Verkannten, eines lange nicht genug Gewürdigten hineinsehen und malen können, ja selbst die überirdische, übersinnliche Liebe, die er für Henriette empfand. Lucia war nur ein Abzug von Nanna, eine zweite Ausfertigung, die alle möglichen Stellungen, die der Maler ihr vor­schrieb, annehmen konnte, nur nicht den trauervollen Ausdruck, der jene wie eine ernste Königin gekleidet hatte.
Wie eine Untermalung, ein bleibender Goldgrund, schwebte Nannas schwermütiges Bild ihm noch lange bei allem, was er schaf­fen mußte, vor.
Auch Nanna selber konnte ihn an der Seite ihres neuen Liebhabers nicht so leicht ver­gessen.
Zwar ihre Vergnügungssucht wurde zu­nächst bei», Sterling reichlich befriedigt. Ins­besondere auf einer Reise, die sie nach Neapel unternahmen, wo sie als stolze Rö­merin vor den ärmeren Leuten dort glänzen konnte. Indessen, auf die Dauer wurden we­der sie noch der Engländer ihres gemein­samen Lebens recht froh.
Sie sehnte sich bei allen Huldigungen Sterlings, die stets etwas Nüchternes, Kühles, Britisches behielten, nach den stillen, bewun­dernden Blicken, die ihr Feuerbach aus sei­nen feurig blauen Augen zugesandt hatte, wenn sie sich willig seinen Anordnungen fügte. Auch die Unterhaltung mit ihm, der in ihrer Gegenwart sich gern heiter und ge­sellig gab, war viel ergötzlicher und ver­gnüglicher gewesen als das trockene Ge­spräch mit Sir Sterling, der überdies das Italienische schlecht und nur stammelnd sprach.
Feuerbach konnte ja, wenn er wollte, bestrickend liebenswürdig sein und uner­müdlich plaudern wie die Fontana di Trevi. Ja, er war zum Ärger des bärbeißigen Brahms, der darum nicht recht mit ihm auskommen konnte, in den meisten Fällen an­schmiegsam, wenn es galt, anderen Leuten zu gefallen. Und wo und wann hätte Feuer­bach es mehr darauf angelegt als bei Nanna, die jetzt sein Gespräch und seine Lebhaf­tigkeit mehr und mehr zu entbehren be­gann.
Aber auch Sterling fühlte im Umgang mit Nanna, die er nun allein besaß, seine hohen Erwartungen nicht erfüllt. Es schien ihm, der sie in den Bildern des Malers so veredelt und vergeistigt gesehen hatte, zuweilen jetzt, als ob die Weihe von ihr genommen und sie von dem Sockel, auf dem sie gestanden hatte, heruntergezogen worden sei.
Mit Kummer bemerkte er auch, daß sie sich bei ihm mehr gehen ließ und nachläs­sige Formen und Bewegungen annahm. Sie brauchte sich ja nicht mehr in die Rolle und Larve einer Priesterin des Heiligen hineinzudenken und zu steigern. Sie konnte sich unbekümmert als das geben, was sie jetzt geworden war: die ausgehaltene Geliebte eines reichen Mannes.
Das aber enttäuschte Sterling von Tag zu Tag immer stärker. Statt des göttlichen We­sens, das er hatte umfangen wollen, hielt er eine nachlässige Römerin, die oft nach Zwie­beln roch und mit der rauhen und näselnden Stimme des Volkes aus Trastevere sprach, in seinen Armen: ein Weib, mit dem er sich nicht vor seinen Landsleuten sehen lassen durfte und die er auch kaum in andere bessere Gesellschaft mitnehmen konnte.
Das Malzelt Feuerbachs hatte Nanna wie ein Tempel umschlossen, in dem sie un­antastbar wie ein Heiligtum gewesen war. Auf die Straße und unter die Leute ge­raten, wirkte sie wie eine einfache Frau, eine schon etwas überreife Liebedienerin, deren Reize nichts Außergewöhnliches mehr hatten.
Um sich mit ihr zurückzuziehen, beschloß Sterling, die Insel Capri aufzusuchen. Er kehrte dort bei Pagano ein, in jener Künst­lerherberge, die weiland schon Waiblinger aufgenommen hatte und nach ihm den Dich­ter Scheffel, dessen „Trompeter von Säckingen" hier entstanden war.
Wenn der Engländer aber gehofft hatte, hier weniger beachtet zu werden, so wurde er dann bald enttäuscht. Die Maler, die bei Pagano hausten, erkannten in Nanna bald das schon bekannt gewordene Modell Feuerbachs, mit dem nun ein reicher Herr herumzog.
Dadurch kam Sterling sich wie ein Bären­führer vor, der mit einer Berühmtheit durch die Lande reist. Und das verletzte wiederum seinen Hochmut.
Schon wollte er nach der stilleren Insel Ischia hinüberflüchten, als er erfuhr, daß auch dort ein deutsches Künstlertrüppchen angesiedelt war, versprengte Mitglieder der Schule der Nazarener, die dort, in Gott ver­sunken, ihre Bilder malten.
So fuhr der Brite denn mit seiner allge­mein neben ihm wie eine Merkwürdigkeit angegafften weiblichen Beute nach Sizilien, wo ein kindliches, unverbildetes Volk we­niger Anstoß an diesem sonderbaren Paare nahm. Er verweilte hier längere Zeit mit Nanna, als ihn in Catania die Nachricht vom Tode seines Vaters erreichte und die drin­gende Aufforderung, zur Ordnung der Erbschaftsangelegenheiten schleunigst in die Heimat zurückzukehren.
Man mußte es Sir Sterling lassen, daß er vor seinem Aufbruch nach England die be­stürzte Nanna so reichlich, wie es ihm mög­lich war, abfand.
Sie hätte auch gut von dieser Spende einige Jahre leben können. Doch ohne männ­lichen Schutz zerrann ihr das Geld unter den Händen.
Dem Briten weinte sie freilich nicht lange nach. Sie war ihn, der selber nur aus Anstandsrücksichten noch bei ihr ausgehalten hatte, längst leid geworden.
Auf der Rückfahrt nach Rom lernte sie einen jungen Neapolitaner kennen, für den sie, um ihm zu gefallen und Eindruck auf ihn zu machen, allerlei Ausgaben machte. Durch ihn, der eine eingefleischte Spielratte war, verlockt, ließ sie sich auch darauf ein, größere Beträge im Lotto einzusetzen, die sämtlich verloren gingen. Kurzum, sie rückte, nur noch mit geringen Barmitteln versehen, in Rom wieder ein.
,,In sehr katzenjämmerlichem Zustand", wie Feuerbach in einer leisen Befriedigung über diesen Ausgang ihres Abenteuers und ihres Treubruchs seiner Mutter zu vermelden wußte. Wobei er noch voll Selbstbewußt­sein hinzufügte: „Mein jetziges Hauptmodell werde ich dafür vor meiner Abreise für die mir unbezahlbar geleisteten Dienste fürstlich belohnen.”
Nanna erfuhr alsbald nach ihrer Rückkunft, mit manchem Klatsch vermengt, die Kunde von der neuen Liebschaft, die Anselmo nun­mehr mit der jungen Lucia Brunacci ver­band. Es war eine stille Genugtuung für sie, daß er, der vornehme Herr, der mit Vorliebe vom Reitpferd auf die übrige, zu Fuß gehende Menschheit herabblickte, sich ihr im Punkt der Treue kaum überlegen gezeigt und sich gleich mit einer anderen Römerin ab­gefunden hatte. Und doch bereitete es ihr einen tiefen Schmerz, daß er ihr so schnell abtrünnig geworden war und sich mit einer so minderwertigen Dirne, wie es Lucia in ihren Augen war, eingelassen hatte.
Nur um Anschluß an einen Mann zu be­kommen, zog Nanna, die wie so viele Frauen des Südens früh zu altern begann, jetzt Er­kundigungen nach Haslinger ein, der sie stets mit seinen schmachtenden Blicken verfolgt und schließlich an jenem ihr noch gut erin­nerlichen Morgen auf dem Palatin mit seinen Liebesbeteuerungen und Gedichten bedrängt hatte. Doch sie konnte nichts weiter in Er­fahrung bringen, als daß er spurlos aus Rom verschwunden wäre.
So blieb ihr nicht viel anderes übrig, als sich in den Stolz der Verschmähten zu hüllen, der sich selbst seinen höheren Wert zuspricht.
Ach! Wenn jener Dichter noch am Leben gewesen wäre und um ihre jetzigen Herzens­nöte gewußt hätte, ihm würden Verse wie diese zu ihrem Trost, zu ihrer Erhebung, von den Lippen geflossen sein:
 
Es scheint dem Menschen nicht erspart zu bleiben.
Daß er sich einmal wenigstens im Leben
So tief enttäuscht sieht, daß sein ganzes Streben
Nach einem Glück in diesem wirren Treiben
 
Ihm wie ein falscher, hohler Traum entschweben
Und schwinden will, er muß es niederschreiben
Und es nur mühsam erst sich einverleiben:
Treulose soll es und Verräter geben.
 
Sonst würd’ man es nicht glauben und nicht fassen,
Daß man so schmählich hintergangen ward,
Und daß der Mensch, der heimlich und verlassen
 
Sich ohne Scheu mit schlechten Wesen paart,
Und daß man nun veiachten soll und hassen
Den, dem sein ganzes Herz man offenbart.
 
FEUERBACH <1873>
 
Aber Haslingers stets versbereiter Mund war verstummt. Und seine Wünsche nach Nannas Besitz, die ihn ehedem durchglüht hatten, moderten nun wie sein Leib in der von ihm selbst erwählten verborgenen Stein­gruft eines weiland kaiserlichen Palastes.
In ihrer Verlassenheit und Verzweiflung versuchte die alternde Nanna jetzt sogar, an den geckischen, nur auf sein Wohl bedach­ten Herrn von Kreidel Anschluß zu finden, durch den sie ihrem Maler abtrünnig und an den steifen Engländer verkuppelt worden war. Doch da erlitt sie eine schmähliche Ab­sage, die sie als stolze Römerin bis ins Blut kränken mußte.
Der eitle Tropf erklärte ihr kurzerhand und frech, daß er, wenn sie zehn Jahre frü­her zu ihm gekommen wäre, vielleicht mit sich hätte reden lassen. Den traurigen Abhub eines gewesenen Künstlerliebchens in Pflege zu nehmen, dafür sei ein adliger Herr wie er nicht auf die Welt gekommen. Sie möge sich an einen der Ruinenhüter wenden, an denen in ihrer Vaterstadt ja kein Mangel sei, Viel­leicht, daß solch ein ergrauter Mann sich noch ihrer kläglichen Überbleibsel erbarmen würde.
Und wieder hätte Haslinger ihr nach dieser niederträchtigen Ablehnung, die ihr widerfuhr, Zuspruch und Aufrichtung erteilen kön­nen. Denn eines seiner Sonette feierte grade dieAnziehung eines nicht mehr ganz jungen, gereiften Weib in dem Zeichen Roms:
 
Den Zauber dieser Stadt im Vers zu fangen
Ist schwerer noch, als sie im Bild zu malen:
Die Abendsonne hat nicht soviel Strahlen,
Wie Rom sie von vergangner Zeit empfangen.
 
Man sieht sie. groß noch aus den Trümmern prangen,
Um in die kleine Gegenwart zu prahlen
Und der Vergänglichkeit den Zoll zu zahlen,
Die spurlos nicht an ihr Vorbeigegangen.
 
Doch hat das Alter seinen edlen Stempel
Halbwelker Reife auf die Stadt gedrückt;
Der Reiz zerbrochner Säulen, morscher Tempel
Hat unser Auge hier stets neu entzückt.
 
Ergreifend wie der Frauen Angesicht,
Aus dem der Schmerz und Herbst des Lebens spricht.
 
Es war damals noch nicht das heutige, son­dern das Rom der Päpste, das behagliche kleinstädtische Rom, in dem sich die Quiriten noch lieber mit ihrem brühwarmen Klatsch als mit den aufgeblasenen Händeln dieser Welt beschäftigten. War noch das Rom, das Joseph Anton Koch gezeichnet und Peter Schenck gestochen und später Oswald Achenbach gemalt hat, das Rom, das Stendhal be­schrieben hat und Gregorovius, der entsetzt die von ihm geliebte und gepriesene Stadt verließ, als hier hohe Mietkästen entstanden und die bisher weichen, mit Gärten ge­schmückten Ufer des Tibers mit Pflasterstei­nen ausgelegt wurden.
Nur nachts, wenn die vielen Brunnen rau­schen und der Mond seinen milden versöh­nenden Glanz über das Forum und Kolos­seum wirft und über die gewaltigen Massen der späteren Bauten, kann man sich selbst heute noch zurückträumen in jenes Rom des Barock und Rokoko, in dem der rundliche Papa Lambertini und der schöne Papa Braschi ihre sanfte Herrschaft über die Ewige Stadt geführt hatten, und da Winckelmann und Raphael Mengs und Overbeck hier katho­lisch wurden, um nur ja als rechte Römer zu gelten.
Nanna war inzwischen verlassen und ver­einsamt aus dem Fremdenviertel der Stadt, wo sie mit Feuerbach gewohnt hatte, auf das rechte Ufer des Tibers gezogen. Zwar nicht nach Trastevere, wo sie die Kränkungen ihres früheren Mannes, des Schusters, zu be­fürchten hatte, sondern in den Borgo, den vatikanischen Stadtteil Roms. Dort fand sie bei einer entfernten Verwandten, die für die zahlreichen geistlichen Herren, die hier in der Nähe des päpstlichen Hofes hausten, eine Wäscherei betrieb, im Dachgeschoß eine not­dürftige Unterkunft.
Noch hatte sie sich nicht entschließen können, dieser Frau, von der sie aus Gnade und Barmherzigkeit ausgenommen worden war, ihre Hilfsdienste beim Waschen an­zubieten. Es war ihr noch ein ganz win­ziger Rest von der Abfindung verblieben, die ihr Sterling beim Abschied hatte zukommen lassen. Solange noch ein Bajocco in ihrer Börse lag, wollte sie ihre Hände schonen, die ihr Künstler so oft in all ihrer Anmut und Vornehmheit gemalt und die Haslinger einmal als die elfenbeinfingrigen besungen hatte:
 
Die wunderbaren, feingeformten Hände
Bedürfen kaum der Ringe, die sie schmücken,
Weil sie, so wie sie sind, uns schon entzücken
In ihrer Weichheit, ihrer weißen Blende.
 
Man sieht die Adern kaum, die sie durchziehen
Wie blauer Glimmer, der durch Marmor leuchtet.
In jeder kleinsten Handbewegung deuchtet
Ihr mich, als sei euch Herrscherglanz verliehen.
 
Ihr zarten Finger, langgestreckt und biegsam,
Ihr könntet gut ein hohes Szepter halten,
Jedoch zugleich auch liebevoll und schmiegsam
Verführerische Zärtlichkeit entfalten,
 
Und wißt gewiß mit Kosen und mit Streicheln
Jedwedem Mann sein Letztes abzuschmeicheln.
 
Indessen, es kam der Morgen heran, da Nanna nicht das geringste Kupferstück mehr besaß. Und nun beschloß sie, sich auf ein Handwerk zu verlegen, das seit jeher bei den Bewohnern des Borgo bis zum höchsten Herrn der Christenheit selber, der hier thronte, beliebt war, auf das Betteln.
 
Ehe sie ihre noch immer schönen und aus­drucksvollen Hände der zersetzenden Seifen­lauge und dem rohen, kalten Wasser aussetzen mußte, wollte sie es doch noch auf eine andere Weise versuchen, unter Scho­nung ihres letzten Schmelzes, ihr Brot zu ergattern. Ja, sie merkte alsbald, nachdem sie die erste Scham überwunden und sich immer mehr an ihr neues Gewerbe gewöhnt hatte, daß die Anmut der Hand, die sie hei­schend ausstreckte, mit dazu beitrug, daß man gern etwas Geld in sie hineinlegte. An­gesichts solcher nicht verarbeiteten blanken und blassen Finger, die um ein Almosen baten, sagte sich mancher mitleidvoll: „Die Ärmste muß einmal bessere Tage verlebt haben. Sie ist wohlmöglich unverschuldet in dies Unglück geraten. Die vornehme Sprache ihrer Gebärden bezeugt ihre bessere Ver­gangenheit. Man muß ihr etwas geben. Wer weiß, was das Schicksal für uns noch tückisch im Hinterhalt hat!”
Auf diese Weise konnte sich Nanna eine Zeitlang als Bettlerin durchhelfen. Wobei ihr auch noch der wehmutvolle Ausdruck ihrer Augen zustatten kam.
Da geschah eines Tages jene Begegnung, die sie aufs tiefste bewegte und jählings aus der schiefen Bahn, in die sie geraten war, herausriß.
Sie batte schon ganz gut verdient in der Frühe, da ein Schub, von Nordländern aus der Peterskirche und den in der Nähe liegen­den Sammlungen strömte. Und manch einer hatte der noch immer ungewöhnlich aus­sehenden Römerin eine kleine Gabe zuge­steckt.
Sie wollte sich nun gerade von dem Er­lös ihrer Bettelei einen warmen Imbiß lei­sten. Nicht in einem der besseren Speise­häuser mit den weiß gedeckten Tischen, auf denen Apfelsinen und Weinflaschen einla­dend für die reichen Fremden standen. Son­dern in einer der kleinen verräucherten Gar­küchen, wie sie in den Querstraßen des Borgo für die einfachen Leute und päpstlichen Handwerker dort betrieben werden und sich von weitem schon durch ihren Ge­ruch nach gekochten Fischen und allerlei Gewürzen ankündigen.
Da kam ihr aus der Ferne noch ein an­scheinend Fremder entgegen, an dem sie vielleicht einen letzten Fang tun konnte und den sie schnell noch zu erleichtern gedachte. Sie duckte sich darum hastig in eine Haus­türe, um diesen Herrn beim Vorübergehen abzufassen.
Es war Feuerbach, den sie mit ihren letzt­hin schwächer gewordenen Augen nicht er­kannt hatte.
Er kam in seinem römischen, malerisch um­geworfenen Mantel von einem Geschmeide­händler aus Gaeta, der hier hauste, und den er aufgesucht hatte, um eine hellrote Ko­rallenkette für Lucia Brunacci zu erstehen, die er dieser vor seiner bevorstehenden Ab­reise nach Deutschland verehren wollte.
In Gedanken und Gefühlen weilte er in dieser letzten Zeit schon ganz bei der Mutter, der er die zärtlichsten Briefe voll Sehnsucht, sie zu sehen, schrieb. Ihm war, als mache er eigentlich ihr oder dem ganzen Frauenge­schlecht in ihr dies Geschenk, das er im Schlendern noch einmal aus der Umhüllung packte, um es zu betrachten.
Er war etwas verstimmt worden durch die Krämerseele; dieser Kerl hatte ihm durch­aus noch einen anderen Schmuck, eine Brosche, aufschwätzen wollen. Sie war und wirkte wie ein Gegenstück zu einer gleich­falls mit einer Gemme gezierten Busenspange, die Feuerbach hier einmal für Nanna gekauft hatte. Schon darum mochte er sie nicht er­werben und hatte den immer niedriger sin­kenden Angeboten des Händlers entschiede­nen Widerstand entgegengesetzt. Bis dieser schließlich selber sein Drängen aufgab und mit der Zustimmung den Schmuck beiseite legte: „Sie haben recht, Maestro, mit dem Gegenstück, das Sie sich damals zulegten, kann dies Ding natürlich einen Vergleich nicht aushalten!”
Das hatte den Künstler nun darum ver­drossen, weil er es unwillkürlich auf Nanna, sein früheres Modell in Rom, bezogen hatte, mit der Lucia, seine zweite Geliebte, wie er immer deutlicher spürte, nicht verglichen werden konnte. Er sagie sich das selbst schon des öfteren in der letzten Zeit und beschloß, dieser ganzen römischen Luft und ihrem Einfluß eine Weile zu entfliehen und sich in den reinen, heiligenden Umkreis der heiß verehrten Mutter zu begeben.
Ganz erfüllt von dem Traumbild dieser unirdischen Frau fuhr er entsetzt zusammen, als sich jetzt eine Hand begehrlich nach ihm ausstreckte, um eine Unterstützung von ihm zu verlangen.
Sie kam ihm auf den ersten Blick bekannt vor, diese Hand, obwohl sie jetzt ein wenig unsauber war und verbraucht und nicht mehr so gepflegt bis in die schmalen Spitzen und die rosigen Fingernägel wie früher.
Und nun sah er auch in das ihm so wohl­vertraute Gesicht dieser Frau, die in einem abgetragenen Samtkleide, das er ihr einst angeschafft hatte, wie eine schlottrige Lum­penkönigin dastand. Ihr einst so vornehmes Antlitz hatte etwas Grobes und Gewöhn­liches bekommen, wie es ihn jetzt unter einem verschlissenen Kopftuch anstarrte.
Eine tiefe Schamröte überflog Nannas Züge, als sich nun ihre Augen mit denen Feuer­bachs trafen und sie inne wurde, was sie getan hatte.
Er selber aber richtete sich auf. Er war an dem Morgen in der Frühe, als noch wenige Gaffer dort waren, in der Sixtinischen Ka­pelle gewesen, der er fast allwöchentlich wie weiland Haslinger der Gruft Waiblingers seine Aufwartung zu machen pflegte. Und unbewußt fand er jetzt, indem er die ehe­malige Geliebte zurückwies und ihr zugleich das Ungeheuerliche dessen, was sie getan, begreiflich zu machen suchte, jene Gebärde, die der Heiland dort auf dem Gemälde des Jüngsten Gerichtes einnimmt: jene drohende Handbewegung, mit der Christus die Sünder, die sich an ihn heranmachen wollen, von sich und der unbefleckten keuschesten Mutter abwehrt, die sich, in ihren Mantel gehüllt, unter ihrem Sohn geborgen hält.
Und wie dort auf dem Riesenbild die Ver­worfenen wegtaumeln vor der Wucht dieser Ächtung und Verdammung, so enteilte jetzt Nanna schmachbedeckt vor dem sie ein­schüchternden Ausdruck dieses Mannes, der allein befugt war, über sie zu richten.
Ohne Not und Anlaß hatte sie ihn ver­lassen. Nicht im mindesten von einer stär­keren Leidenschaft und Liebe getrieben, son­dern einzig um äußerer Vorteile willen, die dann so schnell wie Rauch vergangen waren. Beschämt mußte sie sich dieses alles einge­stehen. Und konnte dabei doch nicht ihren Stolz, ihren alten Römerhochmut überwin­den, um ihn, den von ihr getäuschten und verlassenen Mann, um Vergebung und um neue Aufnahme in sein Herz zu bitten.
Und auch der seinem erloschenen Sänger­freund Waiblinger nachgegangene Dichter hätte es wohl kaum vermocht, diese ihre Starrheit zu beugen. Sonst müßte ja der Geist der Güte, den seine Zunft zu vertreten und zu verwalten hat, schon auf Erden herr­schen und der Zwist, der zwei einander
vordem Liebende trennt, sich ohne Leid und Mühe schlichten lassen. Denn der Wille zum Frieden verbürgt ja den Frieden selbst, und verlorene Zuneigung läßt sich nur durch er­neute verdoppelte Hingebung wiedergewin­nen, wie man ein Feuer, das zu Asche wer­den will, nur durch ein anderes heißeres wiederentflammen kann. Freilich muß man auf beiden Seiten die dazu erforderliche Seelenstärke aufbringen können:
 
Ach! Warum läßt sich jenes eine Wort,
Das die Versöhnung brächte, selten finden!
Weshalb muß eine böse Macht es binden,
Daß es uns auf der Zunge noch verdorrt.
 
Das Wort, das bittend spricht: „Sei wieder gut!"
Und das sich gläubig an die Liebe wendet?
Wie leicht, wie bald war’ jeder Streit beendet,
Fänd’ man, sich aufzugeben, nur den Mut!
 
Fänd’ man die Kraft, dem ändern sich zu fügen,
In seiner Güte blindlings aufzugehen,
So würde dies Vertrauen uns nicht trügen,
 
Und die Verzeihung folgte dem Verstehen.
Wenn sie zwei Herzen still gemeinsam trügen,
So schwände jede Schuld, die je geschehen.
 
Indessen die Beiden, die ehedem so oft ver­traut wie Paolo und Francesca zusammenge­sessen und geschwiegen hatten, sollten sich nie mehr versöhnen und vereinen. Er, Feuer­bach, in seiner Würde durch Nannas Un­treue gekränkt, hätte ihr jede weitere Be­gegnung verweigert. Außerdem verließ er in den nächsten Tagen Rom für längere Zeit, um sich erneut ganz der angebeteten Mutter zu weihen.
Sein Selbstbewußtsein, das er so dringend nötig halte, um den Kampf mit der Gleich­gültigkeit und Kälte, die man ihm und seiner Kunst in der Heimat entgegenbrachte, weiter zu bestehen, war durch Nannas Falschheit schwer beschädigt worden. Zwar sagte er sich immer wieder vor oder gab es auch schriftlich von sich: „In fünfzig Jahren werden meine Bilder Zungen bekommen und sagen, wer ich war.” Und doch nagte ihn manchmal ein tückischer Zweifel an, ob er auch das Lebenswerk, wie es ihm vorschwebte, würde vollenden können. Denn:
In maximis voluisse, nur das Größte gewollt zu haben —, dieser Wahlspruch seines be­rühmten Ahnherrn, des Begründers des hohen Geschlechtes Feuerbach, war auch der seine. Besonders, wenn ihn ein persönlicher Un­dank seitens derjenigen, die von ihm verehrt und beschenkt worden waren, getroffen hatte, konnte sich sein Überdruß an der Welt bis zu Selbstmordgedanken steigern.
Nein! Er wollte solche Tage und schlaf­losen Nachte, wie er sie nach demTreubruch Nannas durch gemacht hatte, nicht noch ein­mal überstehen müssen: Tage, in denen er wie jener Vorfahre, sein Großvater, über sich hätte urteilen müssen: „Von Natur habe ich einen großen Hang zu allen Arten des Lasters. Ich besitze nichts von dem, was man ein gutes Herz nennt. Ich würde weder gütig noch gerecht sein. Ich würde Abscheulich­keiten und Niederträchtigkeiten begehen, wenn ich meinem überwiegenden Hang zum Bösen die Zügel schießen ließe." Tage, in denen er seiner zartbesaiteten Mutter schrei­ben konnte: „Ich vermöchte jeden Menschen kaltblütig umzubringen, der mir in die Quere käme!"
Nur mit äußerster Selbstüberwindung war es ihm damals geglückt, wieder ins seelische Gleichgewicht zu geraten und einen festen Halt in diesem Wust von Verräterei und
Lüge, der ihn umgab, zu finden. „Es gibt für manche Dinge nur einen Arzt — die Zeit", bekundete er aus jenen inneren Nöten der Mutter. Und fügte später noch voll Stolz hinzu: „Würde die Welt nur halb meine Noblesse haben, könnten solche gemeinen Dinge nicht geschehen."
Es war ihm stets weh genug ums Herz bei dem geringen Maß an Anerkennung, die aus Deutschland zu ihm kam, das ihm seine Ge­mälde oft so karg belohnte, daß er von dem Entgelt kaum die tatsächlichen Auslagen für seine Werke bestreiten konnte.
In solch einem Augenblick schwärzesten Unmuts hat er sich jene Grabschrift ge­dichtet, die bitteren, die einzigen Verse, die wir von ihm besitzen:
 
Hier liegt Anselm Feuerbach,
Der im Leben manches malte,
Fern vom Vaterlande, achl
Das ihn immer schlecht bezahlte.
 
Zum Glück für ihn und das Land seiner Geburt sollte diese Voraussagung, was seine Gruft betraf, sich nicht in solch trauriger Weise erfüllen. Dank den Bestimmungen sei­ner Mutter fand der tote Künstler, als er einsam in einem Gasthofzimmer in Venedig an einem Herzschlag gestorben war, eine feierliche Bestattung und eine letzte Ruhe­stätte in Nürnberg auf dem dortigen Sankt Johanniskirchhof.
Kein schönerer und würdigerer Platz hätte sich für den mitten im Mannesalter Dahin­gegangenen finden können als dieser Gottes­acker, in dem er nun in dem nach deutscher Ordnungsliebe als Nummer 715 bezifferten Grab den Schlaf gefunden hat, der ihn im Leben so manchesmal zu seiner Pein gemie­den hatte. Dicht neben den Totenhügeln, unter denen Albrecht Dürer und Veit Stoß, die großen alten deutschen Meister, in die Erde gebettet worden sind, schlummert nun auch der Grieche unter den germanischen Malern in die Unsterblichkeit.
Nanna überlebte die schmerzliche Scham nicht lange, die ihr das unvermutete Zusam­mentreffen mit Feuerbach bereitet hatte.
Es war wie ein tödlicher Stoß für sie, an dem sie vielleicht noch mehr und tiefer als Haslinger unter der Verletzung litt, die ihm bei Nacht von einem Messerstecher beige­bracht worden war. Daß sie als Bettelweib, das auf der Straße sich von Vorübergehenden sein Brot erbittet, vor dem Manne ge­standen hatte, durch den sie ehemals wie eine Kaiserin, eine Göttin in Kunst umge­wandelt worden war, das quälte sie hinter­her wie ein unauslöschlicher Schandfleck.
Diese Erniedrigung, die sie sich selber an­getan hatte, war nicht wieder gut zu machen. Und sie begriff, ja, sie verzieh dem Maler hinterher fast, daß er sich empört von ihr abgewandt hatte, die das überirdische Bild, das er sich von ihr gemacht, entwürdigt und in den Staub gezogen hatte.
Ihr altes Herzleiden verschlimmerte sich unter solchen Qualen und Gewissensbissen von Woche zu Woche. Schließlich ließ ihre Verwandte, die sich nicht ihrer Pflege wid­men konnte und wollte, die bettlägerig Ge­wordene ins Armenkrankenhaus abholen.
So brachte man Nanna in das Ospedale di San Spirito, in jenes unter Papst Sixtus dem Vierten erbaute große Siechenhaus. Sie hatte von ihrem Lager aus den Blick auf den Gar­ten des Findelheims, in dem für mehr als dreitausend Kinder Unterkunft war, und er­freute sich in schmerzlosen Stunden noch ein letztesmal an den römischen Knaben, die dort herumspielten: an diesen unverfälsch­testen, ursprünglichsten Naturkindern, wie sie von Feuerbach bezeichnet worden waren.
Gar manchesmal hatte er solche kleinen Buben mit Nanna auf der Straße aufgelesen und mit in seine Werkstatt hinauf genommen, um sie dort mit Apfelsinen und Schokolade zu füttern und dabei als Putten aufzuzeich­nen, wenn sie sich herumbalgten und über­mütig mit den Schalen der Früchte bewarfen.
Aber bald schon kam der Tag, an dem das letzte Lächeln über die Unschuld der Kind­heit dort draußen von dem immer bleicheren Angesicht Nannas schwand. Die Krankheit verschärfte ihre verfallenen Züge mehr und mehr. Nur der Tod, der bei ihr wie bei ihrem Maler in den Morgenstunden eintrat, drückte noch einmal ein edles Gepräge auf dies so oft verherrlichte Antlitz, das Feuerbach immer aufs neue, aber meist nur von der Seite gesehen, nachgebildet hatte.
Nun, wo sie entschlafen beim Schein der kleinen Wachskerze dalag, die man für sie und ihre arme Seele entzündet hatte, glich Nanna wieder den verklärten Gemälden, in denen sie von Feuerbach der Nachwelt über­liefert worden war. Die Entwürdigungen der letzten Zeit, ihr ruhmloses Zusammenleben mit dem reichen Engländer und ihr bettelhaftes Umherstreichen auf den Gassen wa­ren jetzt, ohne eine häßliche Spur hinter­lassen zu haben, von ihr abgefallen. Sie war erneut jene frühere von der Kunst gefeierte Nanna geworden, die, weiß wie eine Kir­chenlilie anzuschauen, der Irdischkeit ent­schwebte.
Sie war wieder dieser Verse ihres gleich­falls im Tode entführten Dichters würdig:
 
Oft denk’ ich dran, wie wirst du einstmals enden,
Geliebtes Wesen.
Sei’s nach einem Fest,
Das du durchkostet bis zum letzten Rest,
Noch einmal im Genuß dich zu verschwenden,
 
Sei’s, daß man einsam zwischen grauen Wänden
In einem Krankenhaus dich sterben läßt,
Die blasse Hand schmerzvoll aufs Herz gepreßt,
Indes die Augen bange Blicke senden.
 
Wo es auch sei, vergiß nicht, daß dich viele
Geliebt und noch in deinen Bildern lieben,
Solang’ in diesem wehen Trauerspiele
 
Die Schönheit uns als Trost und Glanz verblieben.
Wenn sie dem Moder und dem Staub verfiele,
Mag unser Stern wie Rauch und Spuk zerstieben.
 
 
Dl E  ABBILDUNGEN nach Gemälden Anselm Eeucrbacha
Titelbild:
 
NANNA 1861 (Galerie, Karlsruhe)
bei Seite 32: SELBSTBILDNIS 1852 (Kunsthalle, Karlsruhe)
bei Seite 64:
NANNA ALS LUCREZIA BORGIA 1860 (Städel, Frankfurt am Main)
bei Seite 96: SELBSTBILDNIS 187 3 (Nationalgalerie, Berlin)
 
Klappentext:
 
Herbert Eulenberg
Wahn und Wirklichkeit
ln einem Mosaik handlungsrei­cher Episoden hat Herbert Eulen­berg, der Dichter der „Schattenbilder“, die Herzensbeziehungen Anselm Feuerbachs zu seiner Nanna behutsam nach gezeichnet, zu jenem merkwürdigen Modell, das der Maler immer wieder als eine Priesterin klassischer Schön­heit verklärt hat — der entlau­fenen Frau eines Schuhmachers, die als Bettlerin endete. Der entscheidenste Lebensabschnitt des nach antiker Größe und Klarheit strebenden Künstlers ersteht vor dem Leser und dahinter das Rom um die Mitte des vorigen Jahr­hunderts, mit dem Schwarm der darin heimisch gewordenen deutschen Maler und Dichter.
 
VERLAG DER GREIF
WALTHER GERICKE WIESBADEN
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